■ Zur Einkehr: Bei Hanni
Gröpelingen, Sonntag mittag, zwei Grad minus. Die Straßen ohne Menschen, es sei denn, sie sehen aus wie – in Ostberlin. Zwischen den Häusern und auf der Straße liegen: Die schicken gelben Umweltsäcke, für die Mülltrennungsdeutschland so lange gekämpft hat – diesmal hat die leider wieder keiner abgeholt. Weswegen sie in Dutzendstärke Haufen bilden.
Alles hat zu. Oder besser gesagt: Nichts hat erkennbar geöffnet. Das Leben spielt sich hinter Butzenscheiben ab. Die Gröpelinger verbringen einen Tag, an dem es nicht richtig hell werden möchte, lieber gleich im Dustern. Wo sie sich gewohnt eloquent gebärden können. Wer das nicht hören will, kann's auch lesen. Beispiele geben da nicht zuletzt die Tags an der örtlichen „Comet“-Ladenketten-Dependance (“Haut ab, Konsum-Asis“).
Der Eishölle Gröpelingens entfliehen: Die Straße runter, vorbei an der AHD (Ambulante Haushaltshilfe) und angeklopft „Bei Hanni“, der grüngestrichenen Kneipe an der Hauptstraße. Das Industriegelände des Hafens fängt da vorne an. Da zieht's noch mehr.
Tür braun, Inneneinrichtung rustikal braun, an Hannis Tresen eine Menschentraube. Aus der Box nuschelt der Pop-Sänger Sting. Neben der Eingangstür, luftlöcherstarrend, ein Rentner, der kein Bier (0,2 gleich 1,80) mehr im Glas hat. Merkt das keiner?
Am Tresen nicht mehr. Dort sind sie ja auch ganz dicht zusammengerückt, die Männer, die dem Proletariat mittels Kleinwagenbesitz glücklich entkommen zu sein scheinen, mit ihren Freundinnen.
Es wird merklich ruhiger, als die zwei Fremden sich an einem freien Tisch mit Blumenstrauß und Spitzendeckchen niederlassen. Die heutige „Hanni“-Darstellerin kommt. Mitte fünfzig, beige Bluse, braune Hose, rotgefärbte Lockenimitate. In der Hand eine fast leere 1,5 Liter-Flasche Klaren - die Bestellung:
„Was?“
„Tee, bitte.“
„Nee.“
„Kaffee auch nicht?“
„Mmm-hmmm.“
„Kakao?“
„?“
„Überhaupt was Warmes?“
„Was?“
Gröpelingen geht's auch 1998 nicht so gut. Zu befürchten steht, daß unrentable Linien der Verkehrsbetriebe im Zuge von Sparmaßnahmen eingestellt werden könnten. Obwohl die Haltestelle keine 30 Meter von „Hanni“entfernt ist – Öffnungszeiten standen bei Redaktionsschluß noch nicht fest.
Jürgen Kiontke
„Bei Hanni“. Gröpelinger Heerstr.118
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