Zauberstab der Analogie

■ Die Schweizer Autorin Zoe Jenny liest aus ihrem „Blütenstaubzimmer“

Für junge deutschsprachige Autoren gibt es kein furchteinflößenderes und zugleich verheißungsvolleres Forum als den Klagenfurter Literaturwettbewerb. Wer die zimperlichen Juroren dort überzeugt, darf auch mit nachfolgender Anerkennung rechnen. Obwohl Zoe Jenny „nur“den vierten Preis für den damals noch unveröffentlichten Roman Das Blütenstaubzimmer, das 3-sat-Stipendium. erhielt, reichte der öffentliche Auftritt, um noch weitere Literaturpreise mit sich zu bringen. Die überschwengliche Resonanz auf ihr kurze Zeit später veröffentlichtes Debüt taten das Übrige: A new star was born!

Der Roman erzählt die Geschichte der jungen Jo, die als Scheidungskind bei ihrem Vater aufwächst. Nach dem Abitur fährt sie nach Italien zu Lucy, ihrer Mutter, von der sie seit zwölf Jahren nichts mehr gehört hat. Auf ihrer Suche nach mütterlicher Zuneigung erfährt sie eine Kette herber Enttäuschungen: Lucys Freunden gegenüber muß Jo ihre Existenz verleugnen und sich als kleine Schwester ausgeben. Sie flüchtet sich in Phantasien, macht kurze Bekanntschaften und träumt davon, nach Milwaukee auszuwandern. Als daraus nichts wird und Lucy auf unbestimmte Zeit verreist, kehrt Jo zu ihrem Vater zurück. Aber auch bei ihm ist kein Platz mehr für sie.

Es ist weniger die zum Melodramatischen neigende Geschichte eines Scheidungskindes als vielmehr die einfache, vor Sinnlichkeit übersprühende Sprache, die die Faszination des Blütenstaubzimmers ausmacht. So schlicht die Sätze gebaut sind, so rhythmisch durchdringen sie die beobachteten Situationen. Wie berührt von jenem „Zauberstab der Analogie“, den schon Novalis in seinen Blüthenstaub-Fragmenten als poetisches Instrument nutzte, gehen Wirklichkeit und Phantasien ineinander über. Dabei sind es vor allem Tiere, die unerwartet aus dem Nichts entstehen: „Plötzlich wankte der Boden unter meinen Füßen, als ginge ich auf dem Rücken eines schnaubenden Tieres.“Aber auch atmosphärische Mélanges aus Verheißungen und Ekel und eigenwillige Geruchswelten wie jene, wenn es „im Kino nach Himbeereis, Popcorn und Pisse riecht“, erspürt die Erzählerin mit allen Sinnen. Immer wieder ist es das Kino, das Jos Situation in zugespitzter Dramatik widerspiegelt. Eine brutale Sexszene aus Die letzte Kriegerin etwa, oder Kubricks Shining, in dem die Zimmernummer 237 (die auch die von Lucys Krankenzimmer ist) zur Adresse eines surrealen Horrorszenarios wird.

Jennys Erstling ist nicht, wie vielfach behauptet, eine Abrechnung mit den 68er-Eltern oder ein radikaler Roman der Techno-Generation. Dazu entwickelt sich Jo zu solitär, und dazu spielen alle familialen Kult-Insignien der Jugendbewegungen eine viel zu untergeordnete Rolle. Aus der Kindheitsgeschichte entwickelt sich vielmehr ein dialektisches Spiel von Entbehrungen und Kreativität. Joe findet in sprachlichen Bildern eine wirksame Waffe gegen emotionale Enttäuschungen. So wird der Roman auch zur Parabel literarischer Produktivität. Joachim Dicks

Zoe Jenny: „Das Blütenstaubzimmer“, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main, 1997, 140 S., 29.80 Mark

Zoe Jenny liest heute um 20 Uhr im Literaturhaus, Schwanenwik 38