: Liebes Leben in Marseille
■ Die große, weite Welt als Wasserball im Hafenbecken: „Marius et Jeannette“, ein Film des französischen Regisseurs Robert Guédiguian
Na, um was geht's wohl in einem französischen Film? Um die Liebe natürlich, was sonst! Und wie man über sie viel, gut und schlau redet, gar philosophiert. Und die Handlung? Es wird gegessen, spazierengegangen, philosophiert und – das vor allem – geredet.
So lauten die gängigen Klischees und Vorurteile, die man ja oft nicht ungern auch bestätigt sehen möchte. Und das werden sie auch in Robert Guédiguians „Marius et Jeannette“. Bloß daß die Menschen, um die es hier geht, der Abwechslung halber mal keine Studenten, Künstler oder Akademiker sind, sondern sogenannte kleine Leute mit wenig Geld: Arbeiter und Arbeitslose, die in Estaque leben, einem beengten und leicht heruntergekommenen Stadtteil von Marseille. Hier scheint die Stadt selbst weit weg zu sein, die große, weite Welt kommt höchstens mal in Form eines in den Hafen treibenden aufblasbaren Wasserballs vorbei.
Der Nabel der Welt im Marseille von „Marius et Jeannette“ ist die Neighbourhood mit all ihren großen und kleinen Alltagssorgen.
Da ist also der introvertierte und alleinstehende Marius (Gérard Meylan), der Wachmann in einer stillgelegten Zementfabrik ist und außer auf ein paar Farbtöpfe und rostige Bagger auf nichts aufzupassen hat. Und da ist Jeannette (Ariane Ascaride), Kassiererin in einem Supermarkt, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Beide lernen sich kennen, als Jeannette zwei der besagten Farbtöpfe stehlen will und Marius sie dabei erwischt.
Erst beschimpft sie ihn als Faschisten, dann appelliert sie an sein Klassenbewußtsein als Arbeiter, doch am Ende muß sie ohne Farbe von dannen ziehen. Am nächsten Tag aber bringt Marius ihr die Farbtöpfe, und ihre Liebe kann beginnen mitsamt den Problemen, die sie mit der Liebe und dem Leben haben und die sie gemeinsam mit ihren Freunden, mit Monique und Dédé, mit Justin und Caroline teilen.
Zuweilen kommen einem Guédiguians Figuren zwar etwas arg wie aus einem Bilderbuch der Arbeiterbewegung entsprungen vor, so geschichts- und klassenbewußt, aufgeklärt und tolerant sind sie, so wenig lassen sie sich unterkriegen von langen Schlangen vor dem Arbeitsamt, von schlechten Arbeitsbedingungen, von einem der Ihren, der aus lauter Verzweiflung einmal Front National gewählt hat. Doch wie sie sich so witzig, leicht und entertaining unterhalten, wie ihre Dialoge auch über religiösen Fanatismus oder eben Le Pen nicht so aufgesetzt oder agitierend klingen, möchte man sie eigentlich in einer Tour nur knuddeln.
Und selbst wenn es am Ende geradezu eine „Je t'aime“-Orgie gibt, mag man angesichts von so viel Kitsch nicht voller Scham in seinem Sessel versinken. Ein kleiner, feiner Film von einem Regisseur, der im Presseheft alle seine bisherigen acht Filme als „klein“ bezeichnet; der aber ganz unbescheiden den Wasserball im Hafen dahin gehend gedeutet sehen möchte, „daß alle Geschichten überall auf der ganzen Welt erzählt werden können, jedes Individuum alle Träume der Welt in sich trägt und das unendlich Kleine unendlich groß ist“. Gerrit Bartels
Marius et Jeannette: Regie/Buch: Robert Guédiguian. Mit Gérard Meylan, Ariane Ascaride, Pascal Roberts, Jacques Boudet, Frédérique Bonnal, J.P. Darroussin, Frankreich, 102 Minunten.
Termine siehe cinema-taz.
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