: Ablaßbriefe der Moderne
Soll's ein Stück Kindergarten sein, oder lieber Konfirmandenunterricht? Eine Kirche in Norderstedt verkauft „moralische“Anteilscheine ■ Von Ilonka Boltze
„Ich will keine Geschenke. Erwerben Sie beim morgigen Bibelfest lieber Anteilscheine für die Kirche!“sagt Gunnar Urbach und nestelt an seiner Lederweste. Wer ist dieser geschäftsfreudige Geschenkemuffel, der mit solch weltlichen Ideen zum Gottesdienst daherkommt? Geht die Kirche jetzt ins Eigentum des gemeinen Volkes über? Gibt es bald Taufbecken und Weinkelch im Winterschlußverkauf?
Gunnar Urbach ist Pastor der Norderstedter Falkenbergkirche, und wenn er am Sonntag sein 20. Dienstjubiläum feiert, möchte er nicht von Erntedankresten aus seiner Gemeinde überhäuft werden, sondern lieber selbst etwas loswerden: Anteilscheine im Wert von 20 Mark, ausgestellt mit Siegel und Unterschrift, zu erwerben für Kindergarten, Altenpflege, aber auch für den Konfirmandenunterricht.
„Moralische Anteile sind das. Eine Dividende gibt es natürlich nicht“, erklärt der Pastor. Das riecht nach Ablaßbriefen. Können sich so etwa berufstätige Frauen von der Sünde freikaufen, ihrer heiligen Mutterpflicht nicht nachzukommen? Und wie sieht's aus mit dem schlechten Gewissen, das alle überkommt, die Oma schon länger nicht mehr im Pflegeheim besucht haben? Treiben die Finanznöte die evangelischen Gemeindehirten so weit, daß sie den heftig bekämpften katholischen Brauch wiederbeleben, der selbst beim Papst nicht mehr zu kriegen ist?
„Natürlich geht es um Geld. Wir wollen für die Spenden einen anderen Anreiz schaffen und Anteil-Nehmer im doppelten Sinne finden“, klärt der 46jährige Urbach auf. „Monetär und auch geistig. Mit den verbrieften Anteilscheinen sollen Interessierte in unsere Arbeit einbezogen werden.“Wer so einen Schein erwirbt, wird über die Gemeindearbeit informiert oder auch zu Kirchenkonzerten eingeladen.
Alternative Finanzierungsideen in Zeiten knapper Kirchenkassen sind dem Gottesdiener Urbach nicht fremd. 1989 warf er zum Schreck der Nordelbischen Landeskirche – frei nach dem biblischen Gebot: „Seid fruchtbar und mehret Euch“– über 200 Zehn-Mark-Scheine unter das Volk. Und siehe da, die Schäflein taten, was ihnen geheißen, und vermehrten nicht nur ihresgleichen, sondern auch das Geld. 35.000 Mark nahm der Pastor auf diese Weise für die Gemeindearbeit der Kirche ein.
Und Urbach sammelte weiter: Im vergangenen Jahr gab es „Pfeifenschaften“für die streikende Kirchenorgel, nun geht es mit den Anteilscheinen um die „Wahrung der Substanz“. Bleibt nur zu hoffen, daß die Falkenbergkirche auch im nächsten Jahr noch ihren Namen trägt und nicht Meyer- oder Müllerkapelle heißt – einem Sponsoren zu Dank.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen