Die Kraft der zwei Beine

■ Leonard Cruz beeindruckte im Concordia zu Musik von Bach und Messiaen mit einstündigem Solo-Tanzabend

Wieviel Kraft muß dieser Mann haben. Auf dem Hintern sitzend, bewegt er sich minutenlang durch den Raum, angetrieben allein durch die Kraft seiner Beine. Meter um Meter, die Arme wie lästigen Balast an den muskulösen Körper gepreßt, robbt Leonard Cruz ohne Innezuhalten über das Parkett des Concordia. Eine schweißtreibende, eine mühsame, eine unendlich anstrengende Prozedur. Und doch: Leicht wirken die Bewegungen dieses kräftigen, gedrungenen Menschen, fast anmutig gleitet Cruz dahin.

Nur der Atem, aus dem Brustkorb heftig herausgepreßt, ruft, wenn er während der leisen Musikpassagen hörbar wird, in Erinnerung, daß die Leichtigkeit des tänzerischen Ausdrucks die Frucht einer gewaltigen Anstrengung ist, der sich Cruz in seinem einstündigen Solo-Programm „Tender Buttons“unterzieht.

Der gleichnamige Gedichtband „Zarte Knöpfe“der amerikanischen Schriftstellerin Gertrude Stein stand Pate für Cruz' Tanzabend. So wie Stein in Gedichten Sprache in assoziative Bilder und weitgehend „sinnfreie“rhythmische Klangmalereien transformierte, verwandelt Leonard Cruz in „Tender Buttons“Musik und Licht-impressionen in Bewegungsabläufe, die sich einem traditionellen Verstehensprozeß weitgehend entziehen. Messiaen und Bach, live gespielt von Markus Menke (Piano) und Hozumi Murata (Violine),sowie Detlef Thomas' ausgeklügelter Einsatz der Lichtanlage bereiteten dem Mitglied des Tanztheaterensembles ein perfektes Ambiente. Und Cruz besitzt allemal das tänzerische Format, um diese weiten Vorgaben zu interpretieren.

Zwei Lichtstreifen durchkreuzen das Parkett. Auf allen vieren hüpft, rennt, tanzt und trippelt Cruz auf den erleuchten Bahnen. Und wieder: Minutenlang, ohne erkennbare Spuren der Erschöpfung, treibt er sein kräftezehrendes Spiel. Den Oberkörper zieht es nach links, die Beine wollen nach rechts, der eigensinnige Kopf strebt in eine dritte Richtung. Viele verschiedene Kräfte wirken auf den einen Leib ein, wollen seine Einheit nicht akzeptieren, verlangen nach Entfaltung jenseits der körpergesetzten Grenzen. Und Cruz gibt, angetrieben von Markus Menkes exaltiertem Klavierspiel, diesem Verlangen sogar nach, soweit es das Diktat der körperlichen Unversehrtheit erlaubt. Allein der störrische Bauchnabel hält hartnäckig alles zusammen, verhindert, daß die zappelnden Beine, die rudernden Arme und der kreisende Kopf ihre je eigenen Wege gehen können. Aussichtslos, Cruz Grenzen setzen zu wollen. Weder der Schwerkraft, dem fordernden Rhythmus von Musik und Licht noch dem geöffneten Schnürsenkel des rechten Schuhs, der im Takt der Bewegungen auf das Parkett knallt, gelingt es, diesen brillanten Tänzer und Athleten an den Rand seines Potentials zu treiben. Am Ende glänzen der schweißgetränkte Boden und Cruz Gesicht um die Wette.

Nur Fliegen kann Leonard Cruz noch nicht. Eigentlich erstaunlich. Aber wer weiß, was der nächste Soloabend für Überraschungen bietet. „Tender Buttons“jedenfalls war voll davon. Und dennoch waren im Concordia noch einige Plätze frei. Seltsam. Denn einen so beeindruckenden Tänzer wie Cruz bekommt man – trotz des Staraufgebotes während des Tanzherbstes – nicht alle Tage zu sehen. zott

Nächste Aufführung: 4. Februar, 20 Uhr im Concordia