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Im Rausch des Denkens

Die Intellektuellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ihre Beziehung zur Tat: Sie übten sich in Formen eines kalten Enthusiasmus, der kollektive Leidenschaften in einem nationalen Wir-Gefühl bündeln sollte  ■ Von Ulrich Bielefeld

Intellektuelle sind nicht einfach gebildete Leute. Sie haben eine öffentliche Funktion. Als Schriftsteller waren und sind sie Identifikationsfiguren. Als Professoren bildeten sie die neue nationale Elite demokratischer Gesellschaften aus. Als Journalisten strukturierten sie die öffentliche Debatte, und als Künstler gestalteten sie den öffentlichen Raum.

Im günstigen Falle konnte und kann ein Intellektueller alles sein: bekannter Autor, Professor und politischer Disputant. Die Intellektuellen besetzen eine Position im Raum der Macht der modernen, d.h. industriellen und nationalen Gesellschaften. Mitunter wurden sie selbst Träger der Macht. Nie waren die Intellektuellen eine homogene Gruppe. Aufgestiegen mit dem Nationalstaat und der sich in ihm bildenden Öffentlichkeit, trugen sie den Kampf um seine Selbstdefinition stellvertretend aus. Sie profitierten davon, daß die Leidenschaften in den bürgerlichen Gesellschaften nicht mehr alle und bei fast allen als zu unterdrückende galten. Die Ruhmesgier, neben der Habgier und der sexuellen Begierde eine der klassischen augustinischen Leidenschaften, die im Original nur für den Adel zu einer halbwegs positiven Tugend werden konnte, war übergegangen auf die Nation. An sie waren Ruhm und Ehre gebunden und die Intellektuellen wurden ihre Hüter.

Sie konnten sich daher um so mehr von der umgeformten und hierdurch wundersam legitimierten anderen Leidenschaft, der Habgier in Gestalt der Interessen, abgrenzen. Wurde die Habgier asketisch moderiert, zumindest theoretisch dem Gemeinwohl dienlich, und blieb sie dennoch dem Eigenen nützlich, so hatte die Verallgemeinerung der Ruhmesgier, ihre Übertragung auf die Nation, eher eine Steigerung der nun zu kollektivierenden Leidenschaft zur Folge. Es war der Tod, den man nicht scheute, und der Verrat, den man fürchtete.

Die „gespaltene Klasse“ finden wir modellhaft in den Debatten der Dreyfuß-Affäre. Es ist sedimentiertes Bildungswissen der Intellektuellen, daß sowohl der Begriff und sein Gebrauch, aber auch die soziale Gruppe in ihrem modernen Sinne hier entstanden sind: als anklagende und kritisierende öffentliche Gruppe, die sich im Manifest, das nachträglich als eines der Intellektuellen bezeichnet wurde, manifestiert. Maurice Barrès, keineswegs der einzige Intellektuelle unter den Dreyfuß- Gegnern, als Theoretiker des „Kult des Ich“ gefeierter „Prinz der Jugend“ und vor der Affäre selbst Kultfigur fast aller Pariser Intellektuellen der III. Republik, bezog Position: „Eine Halb-Kultur zerstört den Instinkt, ohne ein Bewußtsein an seine Stelle zu setzen.“ Die Aristokraten des Denkens würden sich von ihrer „natürlichen Gruppe“ verabschieden und verlören die Klarheit, da sie keinen Zugang zu den Gefühlen mehr hätten.

Wie aber fanden die Intellektuellen zu ihrer „natürlichen Gruppe“, die Individualisten also zum Kollektiv und in der Abgrenzung des Kollektivs zum zu bekämpfenden Feind innen und außen? Bei der Beantwortung der Frage stößt man auf eine besondere Form des Enthusiasmus. Der junge, erfolgreiche Prophet des Ich-Kultus entdeckt in der trunkenen, rauschhaften Einsamkeit seines Zimmers seine wirklichen, konkreten „sentiments“, das „reine Ich“, das mit dem reinen Wir zusammenfällt. Im Rausch werden die Emanzipation des Ich und des Wir, paradigmatisch für das kommende Jahrhundert, totalitär zur Deckung gebracht.

Die Leidenschaften sind das große Thema der Zeit. Die Frage war, worauf sie sich richteten. Bekanntlich war es Freud, der zwischen den gerichteten und ungerichteten Trieben unterschied. Die Leidenschaft Max Webers richtete sich auf die Nation. Weber ist nicht nur der Theoretiker der Einhegung des Erwerbstriebes bzw. der Habgier durch die protestantische Askese. Er definiert, zum rituellen Anlaß der Aufnahme in die Gruppe der deutschen Mandarine, in seiner Freiburger Antrittsvorlesung 1895, die neue, radikale Aufgabe seiner Generation. Sie müsse der Staatsgründung Sinn verleihen, indem sie den Großmachtstatus Deutschlands sichere bzw. realisiere. Auch als Kritiker der Junker – und, so muß man hinzufügen, als Verfechter der kulturellen Reinheit – blieb der Intellektuelle dem Ganzen verpflichtet.

Max Weber ist der Typus eines universitären Intellektuellen, eines deutschen Nationalisten und eines leidenschaftlichen politischen Publizisten und Redners, der nur durch die Trennung der Sphären überleben konnte, indem er die Szenarien am Ende seines Lebens analytisch trennte: Politik und Wissenschaft, Leidenschaft und Erkenntnis. Er sah sich vom „stählernen Gehäuse“ umfangen, dessen Gefahren er beschwor, das sich im Ersten Weltkrieg entlud und zu dem die meisten deutschen Intellektuellen die Begleitmusik geschrieben hatten. Weber beschrieb schließlich den alttestamentarischen Propheten als einen Idealtypus des Intellektuellen. Unabhängig von Volk und Politik war er der mahnende und einsame Rufer in der Wüste.

Der leidenschaftliche Weber vermied am Ende den Rausch, den nicht nur Ernst Jünger in den Gräben, im Kampf entdeckte. Dieser Rausch, flüchtig und situativ, verallgemeinerte sich im Typus des „kalten Enthusiasten“, der die Trennungen nicht vollziehen wollte. Die Generation nach 1918, die im Krieg aufgewachsen war und den Untergang des triumphalistischen Nationalismus und der geheiligten Gemeinschaft erlebte, definierte die Nation um. Beobachten läßt sich die theoretische und praktische Transformation des Rausches in Kampf und in Gewalt als Leidenschaft und als Zweck. Die gesamteuropäische intellektuelle Bewegung des Faschismus radikalisierte sich im deutschen Nachkrieg, in dem Gewalt und Mythos nicht nur theoretisch begründet oder literarisch gefeiert, sondern aktiv umgesetzt wurden. Das sogenannte Abstrakte wurde diesen intellektuellen Gegnern der Intellektuellen zum Feind. Sie kämpften für das sogenannte Konkrete: das Volk, das sich nicht finden ließ – außer bei ihnen selbst; die Nation, die sich nicht benennen ließ – außer im Mythos und in ihren eigenen Trieben und Leidenschaften. Hier, in ihnen und durch ihre Taten verwirklichte sich, was sie nicht beschreiben konnten. Das Konkrete richtete sich gegen die als abstrakt behauptete Idee der Gerechtigkeit – und es ließ sich doch nur im kalten Rausch von Mythos und Gewalt verwirklichen.

Eine junge, auf die Zukunft gerichtete Weltanschauungselite radikaliserte sich und handelte – u.a. im Nachkrieg und dem Rathenau- Mord. Einer der Attentäter, Ernst von Salomon, wurde einer ihrer intellektuellen Rechtfertiger. Exemplarisch steht er für eine junge, radikalisierte Generation, der sich das Geheimnis der Nation im Rausch der Gewalt offenbarte. Als beide, Rausch und Gewalt, im nationalsozialistischem Staat auf Dauer gestellt wurden, stand diese Weltanschauungselite zur Verfügung. Exemplarisch hierfür steht Walter Best, der als Student im gleichen Umkreis wie Salomon war und später eine exemplarische Karriere als kühler Organisator im Dritten Reich machte.

Auch die Intellektuellen trugen die Pistole in der Hosentasche, und die Hose beulte an der richtigen Stelle – bei den rechten wie bei den linken Intellektuellen. Nach 1945 gab es nicht nur die skeptische Generation. Waren Nation, Gewalt und Antisemitismus aber delegitimiert, mußte es ideologische Transformationen geben. In diesen blieben Antiamerikanismus und Antiparlamentarismus erhalten. Es lassen sich eigentümliche Formen finden. Der Schweiger Martin Heidegger stellte 1949 in unveröffentlichten Vorträgen in Bremen folgende Reihe auf: industrielle Fabrikation der Nahrung; industrielle Fabrikation von Kadavern, industrielle Fabrikation der Atombombe. Ernst von Salomon schrieb den ersten Erfolgsroman der neuen Republik („Der Fragebogen“, 1951) und gab Bearbeitungsformen des Vergangenen vor. Schließlich sollte er zum nationalen Delegierten der Antiatom- bewegung gewählt werden, in ihrem Namen nach Hiroshima fahren und dort reden. Der Ideologe der „Geächteten“, so der Titel seiner Rechtfertigungsschrift (1930) für das Rathenau-Attentat, hatte zwar seine Partner, nicht aber seine Anschauung geändert: den ewigen Kampf der Völker. Deshalb unterstützte er die Befreiungsbewegungen und hoffte er auf die Studentenbewegung, deshalb bekämpfte er die Notstandsgesetze, die verhindern würden, daß holsteinische und mecklenburgische Soldaten im Ernstfall gemeinsam gegen Amerikaner und Engländer kämpfen würden. Man kann weitergehen: die Begründungen der Gewalt in Salomons „Geächteten“ und die der RAF in der Bundesrepublik zeigen viele Ähnlichkeiten. Es ist die elitäre, qualifizierte Minderheit, die das große Wir verwirklichen will.

Auch Günter Anders hat den Vergleich Holocaust/Hiroshima benutzt, ebenso das Bild des alttestamentarischen Propheten. Der anklagende, von Volk und Macht unabhängige Intellektuelle ist das beliebte Leitbild, das der Überprüfung kaum standhält. Der soziale Raum der Intellektuellen selbst muß beschrieben werden. Nach innen wird er von Intellektuellen und Gegenintellektuellen gebildet, durch diesen Konflikt konstituiert und gestaltet. Auch der organische Intellektuelle Gramscis, zum Volk gehörig und es leitend, ist ein gescheiterter Vermittlungsversuch.

Die Intellektuellen können sich nicht darauf zurückziehen, nur geredet und geschrieben zu haben. Gerade im 20. Jahrhundert hatten sie eine spezifische Beziehung zur Tat. Als Individualisten widmeten sie sich der kollektiven Leidenschaft häufig mit überschüssiger Energie. Sie sind verschiedenen Fahnen gefolgt und haben diese, im Auftrag, meist aber sich selbst beauftragend, mit entworfen. Aus der Geschichte der Intellektuellen des 20. Jahrhunderts in Europa und in Deutschland können sie lernen, daß sie nicht für das Wir verantwortlich sind, zumindest nicht mehr als jeder andere. Mitverantwortlich sind sie für die Gestaltung der öffentlichen Debatten – nicht für das Ganze also, aber für einen Teil bürgerlich-demokratischer Gesellschaften. Situativ bekommen sie immer wieder eine relative Bedeutung: Sie können und müssen auf Alternativen hindeuten, darauf, das auch anderes möglich ist. Deshalb werden sie gebraucht, nicht als Vertreter des großen oder auch des guten Wir.

Ulrich Bielefeld ist Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

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