: Das virtuelle Panoptikum
Für Thomas Barth sind Computernetze sowohl Systeme der allgegenwärtigen Überwachung der Nutzer wie der sozialen Kontrolle in umgekehrte Richtung ■ Von Christopher Pollmann
Ein wichtiges Buch, in mancher Hinsicht problematisch und unfertig, aber höchst stimulierend. Zwischen Kriminologie, Soziologie, Philosophie, Psychologie und Informatik hin- und herpendelnd, erfaßt Thomas Barth unsere zunehmend computergesteuerte Gesellschaft als Schauplatz einer Auseinandersetzung zweier Strömungen. Auf der einen Seite erlaubten die elektronischen Informations- und Kommunikationstechniken die Modernisierung von Herrschaft. An die Stelle repressiver Überwachung trete nämlich die anonyme, allgegenwärtige und zunehmend zentralisierte Kontrolle durch Computernetze und andere Medien. Damit verwirkliche sich in großem Maßstab das Ende des 18. Jahrhunderts von Jeremy Bentham entworfene Panoptikum, ein Gefängnis, in dem alle Zellen von einem zentralen Turm aus eingesehen werden können, ohne daß die Gefangenen ihrerseits in der Lage wären, ihre Wärter wahrzunehmen. Thomas Barth greift damit ein Konzept auf, das bereits vom französischen Machttheoretiker Michel Foucault auf die heutige Gesellschaft angewandt worden ist.
Auf der anderen Seite stehe als subversive Gegenmacht die Subkultur der „Computerfreaks“, namentlich der „Hacker“ des Hamburger „Chaos Computer Clubs“. Mit ihr postuliert Barth das „inverse Panoptikum“, wo die soziale Kontrolle in die umgekehrte Richtung verläuft: gläserne Machteliten statt gläserner Bürger.
Daß es sich hier wirklich um eine Gegenmacht handelt, läßt sich in zweierlei Hinsicht als ein wenig naiv bezweifeln. Zum einen macht Barth nicht deutlich, auf welchen gemeinsamen wirtschaftlichen und sonstigen Interessen diese Subkultur denn beruht. Welche Gründe mögen Computerfreaks dazu bewegen, sich dauerhaft einem Herrschaftssystem und seiner Technik entgegenzustellen? Gibt es eine solche gemeinsame, materielle Motivationsgrundlage hingegen nicht – und das ist zu vermuten –, dann werden sich die meisten Computerfreaks aufgrund ihrer technischen Kompetenz über kurz oder lang mittels gutbezahlter Stellen in genau dieses System integrieren lassen.
Zum anderen unterstellt Barth die Neutralität der Computertechnik, die sowohl der Ausübung wie auch der Kontrolle von Herrschaft dienen könne. Damit verkennt er womöglich zwei dieser Technik offenbar innewohnende Eigenschaften: die mit ihrem Gebrauch einhergehende Vereinzelung und die Unterwerfung ihrer Benutzer unter bislang ungekannte technische Zwänge. Wer schon einmal die Sturheit des eigenen Computers verflucht hat, weiß oder spürt, daß die Arbeit am Bildschirm ein Höchstmaß an intellektueller und manueller Disziplin und Vorausplanung erfordert.
Thomas Barth entwickelt seine interdisziplinären Überlegungen unter ausführlichem Rückgriff auf zahllose große Denker; neben Bentham und Foucault bezieht er sich namentlich auf die Technik- und Medienkritik von Günther Anders, die Systemtheorie Niklas Luhmanns, den Psychoanalytiker Gilles Deleuze, den Philosophen Jean-François Lyotard, den Theoretiker der Geschwindigkeit Paul Virilio, ferner auf Heiner Hastedt, Stanislaw Lem, Marshall McLuhan, Peter Sloterdijk u.a. Diese Reichhaltigkeit macht aber zuweilen einen zusammengewürfelten, eklektischen Eindruck. Jedenfalls führen die häufigen Zitate und Zusammenfassungen anderer Autoren dazu, daß Barths originärer Beitrag, seine eigenen Standpunkte und Argumente unterzugehen drohen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum seine Darlegungen nicht immer hinreichend deutlich an der Entwicklung und dem Nachweis der Arbeitshypothesen orientiert sind. Erschwert wird das Verständnis auch durch einen manchmal arg komplizierten Satzbau und eine hin und wieder undeutliche Terminologie. Dafür entschädigt allerdings eine ausdrucksstarke, metaphernreiche Sprache.
Thomas Barth hat hier gewichtige Denkanstöße vorgelegt. Seine weiteren Forschungen und Analysen – er promoviert derzeit in Soziologie an der Universität Bremen – verdienen große Aufmerksamkeit. Christopher Pollmann
Thomas Barth: „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft. Systemtheorie, Foucault und die Computerfreaks als Gegenmacht zum Panoptismus der Computer- und Multimedia-Kultur“. Centaurus Verlagsges., „Hamburger Studien zur Kriminologie“, Bd.20, Pfaffenweiler 1997, 224 S., 58 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen