: Das wirklich wirkliche Leben
■ Schlimm ist es, wenn jemand wieder anfängt zu hoffen: Oliver Bukowskis Stück über eine Wohnwabennachbarin und Ernst M. Binders Uraufführung in Schwerin: "Nichts Schöneres"
Die Dekoration auf der Schweriner Kammerbühne gefährdet das seelische Gleichgewicht. Ausstatterin Luise Czerwonatis hat aufgeboten, was die Begegnung von Neubauwohnung und Sozialamtsgemütlichkeit hergibt. Topfpflanze wuchert, goldgerahmte Schäfchenwolken leuchten, aus Klappsofa quillt Bettzeug, stuhlloser Tisch blockiert Einraum-Trampelpfade – ein hyperrealistisches Klischee natürlich, das aber angesichts der angeknabbert aussehenden Blondfrisur der Sitznachbarin einiges an real existierender Wahrscheinlichkeit gewinnt.
Der Grazer Ernst M. Binder arbeitet mit Vorliebe in der mecklenburgischen Diaspora. Mit der Schweriner Uraufführung von Einar Schleefs „Totentrompeten“ erregte er Wohlgefallen beim Dichter und Aufsehen im Feuilleton. Seiner Neigung zur Poesie des wirklich wirklichen Lebens frönt er erneut mit der Uraufführung von Oliver Bukowskis „Nichts Schöneres“. Der Monolog des Lausitz- Poeten ist so etwas wie eine Brandenburg-Version der dunklen Alltagsgesänge des Namensvetters aus L.A. Wie das Leben so mitspielt, auf gesamtdeutsch provinziell.
Im Schweriner Damenensemble, das in den höheren Altersrängen erdige Qualität in rauher Menge bietet, ist Binder abermals auf Gold gestoßen. Das grinst und knarrt, glotzt und verzieht das runde Gesicht zu einem noch runderen Staunen, kräht und schnurrt, reibt sich sein rundliches Fleisch und singt mit sägendem Organ. Brigitte Peters heißt die Schauspielerin und im Stück Mechthild Magda Huschke. Fraglich, ob zwischen der Darstellerin und der Figur ein klarer Trennungsstrich verläuft. Denn wer diese Künstlerin des Realismus hört und ihre Mädchenbilder aus der Wismarer Werftkantine im Programmheft beschaut, wird die Empfindung nicht los, Bukowski hätte sein Stück auf Peters' Maß geschneidert.
Een Herz, zwei Eier, Brutalosex und mehr
Was sie mit fröhlichem Gleichmut zum besten gibt, folgt treulich dem Motto: Was Sie noch nie von Ihrer Wohnwabennachbarin wissen wollten. Vom Exgatten Dieter erzählt sie, der wegen schlagkräftiger Männertümelei in der Häckselmaschine landete, von der Nachbarin und Neugierweltmeisterin Huschke, von Brutalosex im Frauenknast und – „Mechthild, jetzt wird wahnsinnig geworden“ – therapeutischem Kneten auf „Bonnies Ranch“. Und immer wieder von dem per Kontaktanzeige – „Näheunddistangs“ – herbeigelockten Mann, der sie bedichtet und beschlafen hat. „Hinten und vorne, oben und unten. Was es nicht alles gibt.“
Blöderweise hat sich dieser Peter nach der einen wilden Nacht nie wieder gemeldet. Wo Mechthild doch wartet. Tag und Nacht sich nicht aus der Wohnung traut, ihn prophylaktisch bekocht und sein „Untenrum“ der Nachbarin Gretschke in idealsten Ausmaßen schildert, daß ihr geil der Geifer rinnt. Das hilft aber alles nichts, „Näheunddistangs“ bleibt verschollen.
Das Glück, das Huschke zu Beginn atmet, verflüchtigt sich, je länger die schöne Erinnerung vorhalten muß. In die sie, als anonyme Vertraute, das Publikum hineinzieht. Wo die Frauen einverständig nicken zu Sätzen wie: „Der Mann an sich hat ja nur een Herz, aber zwee Eier, da isser innerlich schon überstimmt.“ Wenn die Peters das mit einer Is-doch-so-oder?-Stimme herauskehlt, ist sie glänzend. Die fleischgewordene normative Kraft des Lebens im Rohzustand. Manchmal stellt sie den Fuß auf Spitze und schwingt den kurzen Arm elfenhaft wie eine Schrumpfversion von Kati Witt. Und gewinnt so die Würde der Wahrhaftigkeit auf dem Umweg über die Lächerlichkeit.
Schade, daß Binder der Kraft seiner Protagonistin nicht blind vertraut hat. Vom Kaffeebrühen bis Bettenmachen gibt er ihr hundert Verrichtungen und zwingt sie durch ein Dialektgestrüpp zwischen Berlin, Cottbus und Parchim. Doch erst wenn sie die Buchstaben „E“ und „Ä“ von Arkona bis Würzburg ziehen kann, triumphiert sie durch eine ewig patente Stehaufhaftigkeit über die Schrecken von Knast, Klappe und Einsamkeit. Ein unkaputtbarer Gummizwerg.
Zum Ende hin zerläuft das Gesicht der Peters in der Erkenntnis „Nimmer mehr“. Da kann Katja Ebstein noch so sehr von den „Wundern“ singen, die es „immer wieder“ gibt. Peters/Huschke rasiert sich die Beine und bekleidet sich hochzeitlich weiß. Doch der Todessprung aus dem Fenster entfällt, weil die Peinlichkeit vor den Nachbarn länger dauern würde als der Tod.
Als Peter schließlich doch noch vor der Türe steht, ist die Hoffnung auf ein Ende der Einsamkeit längst erloschen. „Ich stell ma tot“, sagt die Peters, und die Wände des Zimmers stürzen ein. Dahinter schweben auch nur die Schäfchenwolken im Blau. „Schlimm ist es“, sagt der Autor Bukowski, „wenn jemand, der sich in seiner aussichtslosen Situation eingerichtet hat, wieder anfängt zu hoffen.“ Nikolaus Merck
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