Vom Schein des Schönen

Mit Arbeiten von Schlömer und Purucker hat im Hebbel der Tanz-Winter begonnen

Das Leben ist ein Wartesaal, in dem Verständigung selten glückt. Was als sprachliche Metapher etwas abgestanden klingt, bietet der körperlichen Artikulation unendlichen Stoff. Denn in ihr wird das Scheitern der Kommunikation beredt. Etwas vermissen, nicht erreichen können, eingekapselt in die eigene Wahrnehmung bleiben: Die Erfahrung des Mangels treibt Bewegungen an. Das gibt dem deutschen Tanztheater seinen traurigen Ton.

Mit dem „Lissabon-Projekt“ von Joachim Schlömer aus Basel und „Bodyscape-s“ von Micha Purucker aus München begann der Tanzwinter im Hebbel-Theater, zu dem vier deutsche Choreographen und zwei aus Frankreich eingeladen sind. Purucker, Schlömer, VA Wölfl aus Düsseldorf und Urs Dietrich vom Bremer Tanztheater: sie alle haben sich eigene Handschriften erworben. Dennoch arbeiten sie (vielleicht mit Ausnahme von Schlömer) aus einer Opposition heraus, als gelte es noch immer, einem von üppigen Balletten überfütterten Publikum die Augen für das Wesentliche im Tanz zu öffnen. So bleibt der Tanz eine spröde Schöne, streng, asketisch, pädagogisch: auf Dauer eine anstrengende Geliebte.

„Der Lebensraum, in dem ein Mensch sich bewegt und orientiert, ist für andere Menschen wesentlich unsichtbar“, notiert Micha Purucker, der „Dance Energie“ 1985 in München gründete, im Programm. Daß er über Architektur und Kunstgeschichte zum Tanz kam, merkt man dem Konzept an, in dem die Tänzer als Instrumente der Raumwahrnehmung fungieren. Drei Tänzerinnen visualisieren in „Bodyscape-s“ das Nebeneinander nicht synchronisierter Erfahrungsräume: Sie folgen unterschiedlichen Programmen, tragen ihren je eigenen Focus in sich.

Jede beginnt mit einem Solo: Die erste schiebt sich auf einer Diagonalen nach vorne, unregelmäßig in Drehungen gleitend und wieder abbrechend. Die zweite nimmt auf dem Rücken rollend einen immer breiter werdenen Abschnitt des Bühnenbodens in Besitz. Bestechend ist das Solo der dritten: Einem zunehmend komplexer werdenden Programm von Griffen und Arbeitsabläufen folgen ihre Hände, während sie sich mit den Füßen nicht von der Stelle rührt. So werden die Handlungsräume der drei als Linie, Fläche und Punkt wie in einer konstruktivistischen Graphik definiert.

Doch die Spannung der Soli kann der zweite Teil, wenn die Tänzerinnen in ihren Monaden aufeinander treffen, nicht halten. Der mangelnde Bezug nach außen läßt auch den Zuschauer außen vor. Die akustischen Räume, die Robert Merdzo dazu öffnet, verstärken das Unspezifische des Überall und Nirgendwo: Stimmen, die sich in Hallen verlieren, Verkehrs- und Maschinenlärm.

Mehr Emotionalität brachte dagegen Schlömers „Lissabon-Projekt“: Allerdings war er dafür auch mit Musikern und Tänzern in die Stadt am Tejo gereist, als ob romantischen Sehnsüchten nachzugeben der Legitimation durch eine Recherche bedürfe. Eine Woche vor dem Gastspiel im Hebbel-Theater hatte das „Lissabon-Projekt“ in Basel Premiere.

Was fast jeder Reisende an Lissabon liebt, gerinnt in dem Stück zu einer dichten Stimmung. Samtportieren, ein Ballsaal, die viel zu hoch hängenden Spiegel einer abgewetzten Pracht, ein knisterndes Grammophon: Jeder Schein des Schönen wirkt hier wie nur auf kurze Zeit geborgt. Und so tanzen sie auch: schüchtern, zart, andeutend, mit flatternden Händen.

Wenn die Gruppe aus den großen Portalen mit weiten Schritten nach vorne ausschwärmt, als würde gleich eine große Revue beginnen, folgt der ironische Bruch bald. Das Licht fällt aus, oder die Musik, und am schönsten wird es, wenn die eben noch großspurigen Gesten sich in eine leise Parodie ihrer selbst wandeln. Dies Doppelte anzudeuten, ein Wünschen und zugleich um das Unmögliche wissen, gelingt Schlömer besonders schön in den Ensembleszenen. Die mit ihrem Verfremden und Rhythmisieren von fast pantomimischen Abläufen allerdings sehr an den Stil von Pina Bausch erinnern. Und dann liegt über allem manchmal ein Grollen wie die Ankündigung eines Erdbebens: Aber es gibt kein Erwachen aus der träumerischen Stimmung.

So verdankt Schlömers Ballsaal seine Poesie dem Absehen von der hiesigen Gegenwart. Dies gilt wohl nicht für das nächste Stück, Urs Dietrichs „Die Langsamkeit des Augenblicks“, das nun tatsächlich in den Wartesaal eines Bahnhofs führt und den beklemmend zähen Fluß der Zeit zur physischen Last werden läßt. Katrin Bettina Müller

„Die Langsamkeit des Augenblicks“, Sa/So, 20 Uhr, Hebbel- Theater