Arbeitslose in Deutschland gehen auf die Straße

■ Beim ersten „Aktionstag gegen Arbeitslosigkeit“ protestieren Zehntausende Menschen in 100 Städten gegen die Politik der Regierung. Arbeitslose besetzen Arbeitsämter in Oldenburg und Frankfurt am Main, 4,823 Millionen suchen einen Job

Berlin (taz/rtr/dpa) – Mit Kundgebungen, Mahnwachen und Menschenketten haben gestern Zehntausende Menschen gegen die miserable Lage auf dem Arbeitsmarkt protestiert. In über 100 Städten kam es beim ersten „Aktionstag gegen Arbeitslosigkeit“ zu Demonstrationen. Die Protestler verlangten neue Jobs und eine bessere materielle Absicherung. In Frankfurt am Main und Oldenburg wurden Arbeitsämter besetzt.

Allein in Erfurt gingen nach den Angaben der Organisatoren rund 7.000 Menschen auf die Straße. Etwa 2.000 zogen durch Berlin. Vor den Arbeitsämtern skandierten sie „Kohl muß weg“ und „Arbeit für alle“. Allerorten wurden eine effektive Arbeitsmarktpolitik und die Rücknahme des Melde- und Bewerbungszwangs verlangt. Die zu Jahresbeginn eingeführten Kontrollen seien diskriminierend. Viele Demonstranten versammelten sich hinter den Fahnen der Gewerkschaften. Wie das Bielefelder Koordinierungsbüro mitteilte, nahmen insgesamt 40.000 bis 50.000 Menschen an den Protesten teil.

In Hamburg sagte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer, nicht die Arbeitslosen seien die „Drückeberger“, sondern die Arbeitgeber und die Bundesregierung, die sich davor drückten, ihnen Arbeit zu geben. Sachsens DGB-Chef Hanjo Lucassen wertete den Aktionstag als vollen Erfolg: „Ohnmacht und Lethargie von Arbeitslosen sind überwunden.“ Der Ratspräsident der Evangelischen Kirche in Deutschland, Manfred Kock, zeigte sich verständnisvoll. Die Proteste könnten dazu „beitragen, daß es nicht zu einer Gewöhnung an einen wachsenden Anteil an Beschäftigungslosen und Ausgegrenzten kommt“.

Zeitgleich zu den Demonstrationen trug Bernhard Jagoda, Chef der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, die Rekordzahlen vor: 4,823 Millionen Arbeitslose waren im Januar gemeldet. Die Schere zwischen alten und neuen Bundesländern klafft weiter als je zuvor auseinander. Während erstmals seit Juli 1995 die Arbeitslosenzahlen im Westen unter dem Vorjahresniveau lagen, ist im Osten heute jeder fünfte erwerbslos. Die Quote im Osten liegt bei 21,1 Prozent. Jagoda mochte keine Prognose über die Februarzahlen abgeben: „Es wird ein ganz schweres Jahr für den Arbeitsmarkt.“

Unbeeindruckt von den Zahlen zeigte sich Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Zum Jahreswechsel seien „immer deutlich mehr Menschen arbeitslos“ als in den Vormonaten, bemerkte er in Köln.

Unter dem Eindruck der Proteste lieferten sich Opposition und Regierung im Bundestag einen Schlagabtausch. Die Debatte kreiste um probate Wege aus der Arbeitslosigkeit. SPD-Chef Oskar Lafontaine machte die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung für das Desaster verantwortlich. Er verlangte, alles daran zu setzen, die Binnennachfrage zu stärken. Der Fraktionschef der Bündnisgrünen, Joschka Fischer, schloß sich dieser Kritik an. Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble hielt dem entgegen, es mangele der Opposition an überzeugenden Alternativen. Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) verteidigte die neue Beschäftigungsinitiative der Bundesregierung. Am Dienstag hatte eine Koalitionsrunde das Konzept des CDU-Abgeordneten Ulf Fink akzeptiert. Es sieht unter anderem vor, 100.000 Sozialhilfeempfänger in den Kommunen zu beschäftigen. Langzeitarbeitslose sollen zu Niedriglöhnen arbeiten. Jugendliche, die nach der Schule keine Stelle finden, sollen künftig Betriebspraktika zu einem Einheitslohn von 500 Mark monatlich absolvieren. Das Papier wurde vom Parlament nicht angenommen. roga/BSI

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