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Das Reservat der Falter

Millionen Schmetterlinge überwintern in den Bergen in der Nähe des Molochs Mexiko-Stadt. Trotz des Besucherandrangs an Wochenenden hört man ihr Flattern  ■ Von Jens Wietich

Luftverschmutzung, Lärm und das Zusammenleben von über zwanzig Millionen Menschen auf engem Raum machen das Dasein in Mexiko-Stadt zur Tortur. Doch genügt ein Tag zwischen November und März, um ein weltweit einmaliges Naturgeschehen abseits des Molochs zu erleben. In diesem Zeitraum bevölkert der Monarchfalter zu Millionen die Tannenwälder Sierra el Campanario, unweit von Mexiko-Stadt. Schon wenige Kilometer vor dem Ziel schaukeln einzelne Monarchfalter im Wind, orange-schwarzweiß vor dem blauen Himmel. Am Zugang zum Reservat angekommen, wird man mit den Auswüchsen des Ökotourismus konfrontiert. Der Weg führt zunächst durch einen Schlauch von Andenkenbuden zum Einlaß des Reservats. Nach dem kleinen Informationsgebäude mit der Kasse kann man trotz des Andrangs an den Wochenenden eine wunderbare Landschaft erleben. In der Sierra Campanario bilden hochgewachsene Tannen einen offenen Bestand, der viel Einblick in die Tiefe und in die Höhe des Waldes gewährt und auch Farnen und blühenden Sträuchern Raum gibt. Der Monarchfalter benötigt ältere Baumbestände, deren Dichte nicht mehr als vierhundert Bäume je Hektar beträgt. In den sonnendurchfluteten und windstillen südlichen Hängen nehmen die Schmetterlinge mit Hilfe ihrer Flügel die Wärme der Sonne auf. Sobald sie eine Körpertemperatur von 16 Grad Celsius erreicht haben, begeben sie sich in die Luft. Je weiter man dem aufsteigenden Weg folgt, desto mehr Monarchfalter sind zu sehen, erst Dutzende, dann Hunderte, bald darauf Tausende. Am Boden liegen tote Schmetterlinge. Rund die Hälfte aller Monarchfalter überlebt den Winter in Mexiko nicht und fällt der Kälte zum Opfer. Die übrigen tanzen in der Sonne oder bedecken die Tannen mit einem ockerfarbenen Schleier, der den Wald verzaubert. Ganze Baumgruppen sind so mit Faltern behangen, daß sie Herbstlaub zu tragen scheinen. Wo der Rundweg an seinem höchsten Punkt wieder zum Eingang zurückführt, führt eine Abzweigung vom Hauptweg weg. Menschliche Stimmen sind kaum noch zu vernehmen. Eine leichte Brise verursacht ein Knarren in den alten Bäumen. Darüber hinaus ist nur ein einziges Geräusch zu hören, nur hier in der Stille, das millionenfache Flattern von Schmetterlingsflügeln.

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