: Willkommen in der Kolonie
Eine Fahrt in die mexikanische Provinz Chiapas, die Region der Revolution. Schon immer war der Landstrich rückständiger als andere Provinzen: Nirgendwo ist Armut so deutlich sichtbar, nirgendwo ist die Spannung spürbarer ■ Von Anja Mierel
Regálame un Peso, regálame un Peso...!“ Der Junge ist vielleicht fünf Jahre alt. Seine ziemlich schmutzige Hose wird am Hintern nur noch von unzähligen Flicken zusammengehalten, seine Füße sind nackt. „¡Regálame un Peso...!“ Hey, du, schenk mir einen Peso! Gebetsmühlenartig werden die drei Worte wiederholt. Der junge Mann, an den die Bitte gerichtet ist, windet sich sichtlich verlegen. Dreimal so groß ist er wie das Indigena-Kind, das er zu ignorieren versucht. „¡Regálame un Peso, regálame un Peso, regálame un Peso!“ Auf einmal ist ein Spaß daraus geworden. Der Junge, die anderen Kinder, der junge Mann, wir anderen, alle fangen an zu lachen. Irgendwann hat er es geschafft: Eine Geldbörse wird geöffnet, Münzen klimpern, und ein Geldstück im Wert von 25 Pfennig wechselt den Besitzer.
In einem weiten Talkessel, rund 2.300 Meter über dem Meeresspiegel, liegt San Cristóbal de las Casas, ehemals Ciudad Real, die königliche Stadt. 1528 als Vorposten der spanischen Konquistadoren gegründet, war San Cristóbal lange Zeit Hauptstadt und Zentrum der südmexikanischen Provinz Chiapas. Wer aus der heißen Ebene an der Golfküste anreist, aus Yucatán, Campeche und Tabasco, atmet auf: Die Luft in den Altos de Chiapas, im Hochland, ist frisch und kühl, die Wolken hängen tief über der Stadt. Morgens, wenn sich der Nebel lichtet und die Sonne die Regenlachen der vergangenen Nacht trocknet, hat man das Gefühl, dem Himmel sehr nah zu sein... Ein idyllischer Ort?
Noch hängen überall die grün- weiß-roten Girlanden und Lichterketten vom Dia de Independencia. Der wenige Tage zurückliegende Jahrestag der mexikanischen Unabhängigkeitserklärung ist nur ein Datum in der langen Kette mexikanischer Feier- und Gedenktage: Ob Unabhängigkeit, Revolution oder der Namenstag eines der diversen Heiligen – Anlässe, eine Fiesta abzuhalten, gibt es genug.
Im landschaftlich reizvollen Chiapas jedoch hat es mit dem Nationalstolz seine eigene Bewandnis. Schon immer war der abgelegene Landstrich rückständiger als andere Provinzen. Und schon immer hat es Reisende hierher gezogen, ehe Chiapas weltweit in die Schlagzeilen geriet. Seit ihrem Aufstand Anfang 1994 ist die EZLN, die zapatistische Guerilla, zu einem neuen nationalen Hoffnungsträger geworden. Für einige Monate gab sich die internationale Presse in Chiapas ein Stelldichein. San Cristóbal war eine von vier besetzten Städten und Verhandlungsort zwischen Rebellen und Regierungsabordnungen. Die katastrophalen Lebensbedingungen der mexikanischen Indigenas waren schlagartig ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit gerückt.
Inzwischen sind die Besuche der Schlagzeilenjäger aus aller Welt seltener geworden. Das Leben in San Cristóbal geht seinen Gang. Meist nachmittags und abends ergießen sich ergiebige Regenschauer über die Stadt. Innerhalb weniger Minuten verwandeln sich die gepflasterten Straßen dann in reißende Bäche, und die Fußgänger suchen Zuflucht unter den Dächern der Patios und in Hauseingängen. Die Stadtgründer im 16. Jahrhundert haben sich etwas dabei gedacht, als sie die Straßen anlegten: Hohe Bürgersteige wurden angelegt für die Coletos, die spanischstämmigen wohlhabenden Städter. Während diese trockenen Fußes blieben, waren Indigenas noch bis in jüngster Zeit aufgefordert, vom Bürgersteig zu treten, wenn ihnen ein „Weißer“ entgegenkam. Bis zu einem halben Meter erheben sich die Bürgersteige über das Straßenniveau, was den Rucksacktransport für uns zu einer sportlichen Angelegenheit macht. Umringt von Indigena-Kindern, die Kaugummis und Kunsthandwerk feilbieten, springen wir über Pfützen, mühsam wird das Reisegepäck von Häuserblock zu Häuserblock geschleppt.
Mit uns reist der Spott des Subcomandante Marcos. „Willkommen in San Cristóbal, ,Kolonialstadt‘, wie die Coletos sagen, doch die Mehrheit der Bevölkerung ist indigen. Willkommen auf dem großen Markt... Hier kauft und verkauft sich alles, außer der indigenen Würde...“ Der legendäre maskierte Sprecher der EZLN, momentan in der Selva Lacandona, dem unzugänglichen Urwald ganz im Osten der Provinz, verborgen, wird uns immer wieder in Chiapas begegnen.
Artesania-Markt an der Kirche Santo Domingo. Vor dem reichen, verwitterten Barock-Portal der Kirche sammeln sich täglich einige Dutzend Indigena-Frauen, um ihr Kunsthandwerk zu verkaufen. Wieder einmal versinkt die Stadt in den Wolken, die Luft ist feucht und kalt. Viele der Frauen sind barfuß, das lange schwarze Haar tragen sie in zwei am Ende zusammengeflochtenen, häufig mit bunten Bändern geschmückten Zöpfen. Schwere wollene Röcke und bunte Schals und Tücher, die über weißen Blusen getragen werden, schützen sie vor der klammen Kälte. Unter Plastikplanen sind selbstgeknüpfte Armbänder, Lederwaren und handgestrickte Schals, Handschuhe und Pullover zum Verkauf ausgestellt. Verkaufsrenner sind nach wie vor selbstgebastelte Zapatisten, die in allen Größen im Angebot sind. Die kleinen Puppen sind mit Pasamontañas ausgestattet, den Wollmützen der EZLN-Aufständischen, die nur Mund und Augen freilassen. Gehandelt wird hier nicht: „Die Puppen herzustellen, das ist viel Arbeit – drei Stück kosten 15 Pesos, Señora – basta!“
Wir bezahlen und ziehen weiter. Einen Stand weiter sind T-Shirts mit Marcos-Konterfei, Videos und Kassetten mit EZLN-Texten im Handel. Im Buchladen auf der Calle Insurgentes, der Hauptverkehrsader der Stadt, blättern wir uns durch ein breites Angebot an EZLN-Material und zapatistischer Sympathisanten-Lektüre. Benefizkalender und -postkarten mit Indigena-Motiven liegen auf den Büchertischen aus und Flugblätter mit den neuesten Marcos-Botschaften. Jetzt sind wir doch einigermaßen erstaunt: die „Staatsfeinde“ und ihre Propaganda als Popstars in aller Öffentlichkeit und als Souvenir?
„In Mexiko hat man eine eigene Sichtweise dieser Dinge. Man gibt sich betont offen und demokratisch: ,Seht mal, wie tolerant wir mit unseren Gegnern umgehen...‘ Repression ist dabei an der Tagesordnung. Der Schriftsteller Vargas Llosa hat es nach einem Besuch auf den Punkt gebracht: Mexiko ist eine perfekte Diktatur!“ Miguel Pickard und Adolfo Ocampo arbeiten für CIACH, das Zentrum für Information und Analyse in Chiapas. Mit anderen regierungsunabhängigen Organisationen in San Cristóbal haben sie es sich zur Aufgabe gemacht, Graswurzelaktivitäten von Campesino-Organisationen zu unterstützen, auf soziale und wirtschaftliche Defizite aufmerksam zu machen. Und sie haben genug zu tun: Chiapas ist eine Krisenregion. Nirgendwo in Mexiko ist Armut so deutlich sichtbar wie hier, nirgendwo sonst ist die Spannung spürbarer. Die Provinz ist das Armenhaus der 32 mexikanischen Bundesstaaten.
Nach holpriger Fahrt im überfüllten Collectivo, dem weißen VW-Bus-Sammeltaxi, steigen wir am Eingang der Tzotzil-Gemeinde Agua Azul aus. Die Wasserfälle nahe der Ortschaft Palenque mit ihren weltberühmten Maya-Ruinen fehlen in keinem Reiseführer, ein Muß für jeden Reisenden. Busladungen von Touristen in Shorts und Turnschuhen machen sich mit uns auf den Weg in das Naturparadies. Wieder einmal umringen uns Kinder und junge Frauen. In Körben balancieren sie gezuckerte Maismehlpfannkuchen auf dem Kopf, geschälte Apfelsinen und Grapefruits werden uns bittend entgegengehalten. „Compra este!“ Bitte kauf! Doch das Geschäft läuft schlecht, die Touristen haben ihren Proviant selbst mitgebracht.
Aus unzähligen Quellen rauscht Wasser und ergießt sich in natürliche Becken und Bassins. Es ist drückend heiß, und das in Grün- und Blautönen schimmernde Wasser lädt zum Baden ein. Auf riesigen Baumwurzeln und lehmigen Waldwegen balancieren wir über die Wasserläufe, immer weiter hinein in den Urwald. Dabei passieren wir die Vorgärten der ansässigen Familien, immer wieder begegnen uns ihre Kinder. Sie sprechen kein Spanisch, beherrschen aber die Sprache, die immer dort gesprochen wird, wo Armut auf Massentourismus trifft: „Give pen“ – „Carmela...“ – „Five Pesos...“. Tropische Vogelstimmen mischen sich mit dem Lärm von Motorsägen, irgendwo im Wald. Zwischen Sträuchern, an einem Bach sind einige Frauen mit Wäschewaschen beschäftigt. Neben uns klicken Kameras: Die Armut der Indigenas ist farbenfroh und für manche ein attraktives Fotomotiv.
Auf der Rückfahrt im Collectivo ist die Stimmung gedrückt. Eine mexikanische Touristin verwickelt den Fahrer in eine Diskussion. Wie kann dieses Land so prächtig sich selbst und seine Unabhängigkeit feiern, wenn es den Leuten hier so dreckig geht? Wie sie denken immer mehr Mexikaner. Adolfo und Miguel sind vorsichtig optimistisch: Der Aufstand der Indigenas hat einen enormen gesellschaftlichen Aufschwung bewegt, das jahrzehntelang in der Staatspartei PRI konzentrierte Machtmonopol ist aufgebrochen. Doch ob und wann sie selbst davon profitieren?
Jedes zweite Kind im Bundesstaat Chiapas ist unterernährt, jeder dritte Erwachsene Analphabet. Ein Drittel aller Haushalte muß ohne Elektrizität auskommen, über 40 Prozent ohne fließendes Wasser, 55 Prozent ohne Abwasseranlage.
Zurück in San Cristóbal. Wir treffen uns zum Frühstück mit Inés Castro, Mitarbeiterin bei CONPAZ, einem Zusammenschluß von regierungsunabhängigen Organisationen. Inés berichtet von ihrer Arbeit. Aus dem Fenster geht der Blick auf die Insurgentes. Zwischen schmalen Bürgersteigen schlängeln sich hupend Pick-ups, die allgegenwärtigen, in Mexiko hergestellten VW-Käfer und Kleinbusse. Ein kakophonisches Getöse erklingt aus einer nahen Grundschule: Die Stadtkinder üben – mit Pauken und Trompeten – einen patriotischen Marsch. Für die durch den Zaun spähenden Indigena-Kinder findet dagegen kein Unterricht statt. Wie üblich versuchen sie, ihre Waren an die Touristen loszuwerden. Plötzlich verebbt der Verkehr. Achtzig oder hundert Männer und Frauen ziehen vorbei, in kleinen Gruppen, einige Arm in Arm. Ihre Gesichter sind mit schwarzen Wollmützen verhüllt. Für einige Minuten beherrschen die Zapatisten die Szenerie. Dann – so schnell, wie sie gekommen sind – sind sie verschwunden.
Wie denken die Stadtbewohner über den Aufstand? Inés ist skeptisch: „Die Ladinos hier in der Stadt wollen ihren Wohlstand nicht teilen.“ Die „weißen“ Städter und ihre Nachbarn, die indigenen Campesinos, sind sich in 450 Jahren wenig nähergekommen.
Abreise. Mit gemischten Gefühlen steigen wir nach fünf Tagen in den Nachtbus, der uns zurück ins Urlaubsparadies an der Karibikküste bringt. Noch einmal begleitet uns der Subcomandante: „Müde? Wollen Sie zurück? Also gut. Andere Orte? Ganz andere? In welchem Land? Mexiko? Sie werden das gleiche sehen... Wenn Sie mal wieder einen Reiseführer brauchen, lassen Sie es mich wissen, ich stehe zu Ihren Diensten. Ach, und noch etwas: Es wird nicht immer so sein...“
Literatur: Subcomandante Insurgente Marcos, „Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald. Über den Zapatistischen Aufstand in Mexiko“, Edition Nautilus, Hamburg 1996
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