Vorhang auf an allen Fronten

■ Im Westen oft als Kitaprogramm verschrien, wurde Puppentheater im Osten vom Staat verordnet. Beides aber konnte ihm letztlich nichts anhaben: Puppentheater ist immer und überall

Puppenspiel? Nein danke! Gruselige Vorstellungen spuken im Kopf vieler Theaterfreunde umher. Kasper, Prinzessin und so. Kindergarten. Dabei ist das Spiel mit Puppen eine uralte Kunst und nicht nur bei Kindern populär. Im Gegenteil. Fast unüberschaubar ist die Anzahl von städtischen und privaten Puppentheatern in Deutschland, von freien Gruppen, Vereinen oder Solisten. Allein im Jahrbuch des Deutschen Forums Figurentheater und Puppenspiel sind 304 davon zu finden, und bei weitem nicht alle tauchen hier auf.

Puppentheater gibt es fast überall. Städte wie Frankfurt am Main, Halle, Leipzig, Göttingen und Hannover bringen es auf drei entsprechende Bühnen, in Bielefeld sind es vier, in Bochum fünf, in Düsseldorf und Köln sechs. Berlin ist mit 22 großen, kleinen und winzigen Bühnen der Spitzenreiter. Die Platzauslastung fällt natürlich unterschiedlich aus. Aber allein das vor 60 Jahren gegründete Puppentheater der Stadt Naumburg erreicht jährlich rund 25.000 Zuschauer, und in einer Stadt mit 77.000 Einwohnern wie Neubrandenburg gibt es sogar für zwei Puppenbühnen genügend Publikum.

So viel Puppentheater drängt natürlich zum Festival. Alle zwei Jahre findet das Fidena-Festival in Bochum statt, in München gab es Ende letzten Jahres ein internationales Figurentheatertreffen, in Braunschweig gibt es diesbezüglich sogar eine 40jährige Tradition. Harro Siegel, ein bekannter Marionettenspieler, rief das erste Treffen in den Zeiten des Kalten Krieges als Begegnung zwischen ost- und westeuropäischen Theatern ins Leben.

Im letzten November waren in Braunschweig auffallend viele SolistInnen vertreten, worin sich auch eine spezielle Ausdrucksform zeigt: die Möglichkeit, einen inneren Dialog in einen äußeren umwandeln zu können. Das Figurentheater hat dabei seine festumrissenen Formen längst verlassen. Mit der offenen Spielweise und der Beseitigung des traditionellen Spielschirms ist der Bezug zwischen Spieler und Figur immer stärker zum eigentlichen Thema dieses Theaters geworden, das Figurenspiel zum theatralischen Ausdrucksmittel einer spezifisch menschlichen Thematik: der Selbstbefragung.

Puppen beim Wehrmachteinsatz

Puppentheaterästhetik als Spiegel der Gesellschaft – ein Rückblick im Schnelldurchlauf: In der Jugendbewegung Anfang dieses Jahrhunderts war vor allem das Spiel mit Handpuppen beliebt. Mit dem Bauhaus erlebten die Marionetten eine neue Blüte, bildende Künstler beschäftigten sich mit den Figuren und experimentierten mit Formen und Material, Licht, Tanz und Musik. Manchmal ging es so abstrakt zu, daß von Puppen oder Figuren kaum etwas übrigblieb.

Die Nazis betonten dann das volkstümliche, besser: das volkstümelnde Element. Der Kasper ward urdeutsch, und die Bösewichter trugen lange Hakennasen. Hölzerne „Kameraden“ als Träger der menschenverachtenden Politik. Mehr noch: Puppen waren auch im Fronteinsatz, auf beiden Seiten. Puppenspielabteilungen in der deutschen Wehrmacht wie in der Roten Armee brachten den Soldaten Abwechslung vom Kriegsalltag und transportierten zugleich Propaganda. Selbst in Partisanengruppen oder in deutschen Konzentrationslagern wurden Figuren geschnitzt. Im Berliner Puppentheatermuseum ist dazu bis Ende Januar eine Ausstellung zu sehen.

Nach Kriegsende war alles Volkstümliche zunächst suspekt, also auch der Handpuppenkasper. Und als nach einigen Jahren in die Entwicklung des Puppenspiels in Deutschland wieder Bewegung kam, war es schon in einer West- und einer Ost-Variante: Im Westen bemühte man sich um eine Abgrenzung von der althergebrachten Puppenspielkunst, im Osten war die bewußte Pflege von Puppen- und Figurentheater als Bekenntnis zur Tradition Konzept. Und so konnten die bildenden Künstler im Westen in den 70er Jahren ungestört in Bauhaus-Manier mit Papierkreationen oder Licht und Schatten experimentieren, während derlei Versuche im Osten wie überhaupt alles Abstrakte und Surreale vom Staat argwöhnisch beäugt wurde.

Gleiches gilt für das emanzipatorische Theater, das mit den 68ern in die Kinder- und Jugendtheater Westdeutschlands Einzug hielt. Neue Gruppen enstanden. Kindgerechte Themen kamen auf die Spielpläne. Bloß keine heile Welt abbilden! Die Kleinen sollten von keinem Kasper eingelullt, sondern auf das rauhe Leben vorbereitet werden. Dabei mußte sich die Ästhetik oft der Aussage „Form follows function“ unterordnen, und zum Mitspielen sollte es auch noch animieren. In der DDR natürlich wurde Mitmachtheater nicht gern gesehen. Schließlich war das kein bloßes Spiel mehr. Es ging um die Veränderung der Gesellschaft. Aber auch im Westen ließ man nicht alles durchgehen: In Berlin gab es Spielverbote für das Grips Theater und die Rote Grütze.

Spielverbote konnte es auch in der DDR geben. Andererseits war das Puppen- und Figurenspiel als Kunstgattung anerkannt. Kein Schauspieltheaterfestival ohne sie, und stets wurden auch Vertreter aus anderen sozialistischen Ländern eingeladen. Russische, tschechische und bulgarische Puppenspieler beeinflußten die DDR- Szene mit ihrer folkloristischen Spielweise stark. Die staatliche Anerkennung und gleichwertige Institutionalisierung der Puppenspielkunst schuf eine ganz eigene Professionalität in der DDR. Puppenspieler waren an Theater gebunden. Hatten ihr sicheres Auskommen, spielten fast ausnahmslos in großen Ensembles und konnten auf Bühnentechniker bauen.

Wer ist professioneller: Ost- oder Westspieler?

„Selbst das schlechteste Puppenspieltheater der DDR war wenigstens professionell“, meint Vera Pachale. Sie muß es wissen. Seit 1973 macht die heute 48jährige Berlinerin Puppentheater. Seit der Wende ist sie als Einfraubühne unterwegs. Da kommt ihr noch heute die Ausbildung an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Abteilung Puppenspielkunst, zugute. Nicht ohne Stolz erzählt sie wie andere Ost-Puppenspieler von Studium und Diplom, während West-Puppenspieler immer wieder betonen, daß man das Puppenspielhandwerk auch ohne Studium erlernen kann. Was Georg Offik vom Westberliner Narrenspiegel einigermaßen arrogant findet. Egal, wo und wie der Puppenspieler sein Können lernt, allein die „Professionalität entscheidet. Und natürlich immer stärker die Finanzen.“ So betrachtet, gibt es keine Unterschiede zwischen Puppenspiel Ost und West.

Dieser Ansicht ist auch eine Frau, die sich in beiden Szenen bestens auskennt. Silvia Brendenal, seit August dieses Jahres wieder in Berlin als Künstlerische Leiterin der Schaubude, war jahrelang Redakteurin der (Ost-)Zeitschrift Theater der Zeit und Chefin des Internationalen Figurentheaterfestivals Fidena in Bochum. „Hochschulausbildung allein ist noch kein Garant für Professionalität“, sagt sie. „Puppenspielkunst ist dann gut, wenn sich der Puppenspieler auf der Bühne als Zeitzeuge begreift, wenn er die heutigen Geschehnisse reflektiert und thematisiert. Über professionelle Mängel kann man auch einmal hinwegsehen, wenn es zu einem Dialog zwischen Puppenspieler und Zuschauer kommt.“ In Frankreich etwa gibt es Puppentheater auf Weltniveau, aber keine Schauspielschule. Auch in Deutschland gibt es neben dem Berliner Studiengang nur einen an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart.

Puppenspielen im vereinten Deutschland: Da ist Susanne Böhmel aus Dresden, die seit 1980 im Einpersonenbetrieb Kaspertheater mit Handpuppen zeigt. Da ist das Puppentheater des Deutsch- Sorbischen Volkstheaters Bautzen, das bereits 1961 gegründet wurde. In der dritten Generation spielt auch schon das Lari Fari Caspertheater aus Halle und setzt dabei auf Klassiker des Puppentheaters wie die „Betteloper“, „Gevatter Tod“ oder „Doctor Faust“. Oder das Hamburger Amateurtheater Schattenbühne, das seit über zwanzig Jahren seine rund 25 Zentimeter großen echten chinesischen Figuren führt. Und auch Andrej Woron gehört dazu mit seinen lebensgroßen Puppen in den Inszenierungen mit dem Teatr Kreatur in Berlin.

Die Puppen- und Figurenspieler stehen übrigens nicht nur über Festivals in regem Austausch, sondern sind auch in mindestens 36 internationalen, deutschlandweiten, Länder- und Regionalverbänden oder Vereinen organisiert, in denen informiert, dokumentiert und geforscht wird. Auch vierzehn Museen, sechs Sammlungen und sieben Archive haben sich dem Medium verschrieben, und es gibt gleich sechs Zeitschriften zum Thema. Kein Kinderspiel also, dieses Kinderspiel. Der Berliner Professor für Puppenspielkunst, Hartmut Lorenz, bringt es auf den Punkt: „Das, was wir machen, ist Theater.“ Andreas Hergeth