: Zum Wohl der Allgemeinheit
■ Mit der Bioethik-Konvention sollen medizinische Experimente mit Kindern, geistig Behinderten und altersverwirrten Patienten zulässig werden. Der Völkerrechtsvertrag ist von der Bundesregierung noch nicht unterschrieben. Doch auch ohne die umstrittene Richtlinie forschen Ärzte an der Berliner Charité bereits mit Patienten, die im Wachkoma liegen.
Medizinische Menschenversuche ohne ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen sind in der Bundesrepublik verboten – in Anlehnung an den „Nürnberger Kodex“, den US-amerikanische Militärrichter 1947 im Blick auf Verbrechen deutscher Ärzte im NS-Staat formuliert hatten. Aber einige Wissenschaftler stehen längst in den Startlöchern und fordern, das deutsche Arzneimittelgesetz an die Vorgaben der europäischen Bioethik-Konvention anzupassen. Der Völkerrechtsvertrag erlaubt in Ausnahmefällen Experimente mit Menschen, die nicht persönlich einwilligen können, etwa geistig behinderte, bewußtlose, altersverwirrte, psychisch kranke Patienten und Kinder. An ihnen sollen Mediziner auch forschen dürfen, ohne dabei einen gesundheitlichen Nutzen für die Versuchsteilnehmer anstreben zu müssen.
Ein deutscher Wortführer ist der Psychiatrie-Professor Hanfried Helmchen von der Freien Universität Berlin, der auch Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer ist. Helmchen will Demenzkranke in den Dienst zukünftiger Patientengenerationen stellen, um den Ursachen bisher nicht heilbarer Krankheiten auf die Spur zu kommen. Die Zahl der Betroffenen ist groß: Mindestens 800.000 Menschen leben nach Schätzung der Bundesregierung hierzulande mit einer Form der Demenz, deren bekannteste die Alzheimer-Krankheit ist. Sie äußert sich als schleichender geistiger Verfall und mündet häufig in Pflegebedürftigkeit.
Gemeinsam mit einem Arbeitskreis aus Psychiatern, Juristen, Theologen und einer Vertreterin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft hat Helmchen Bedarf angemeldet für Versuche mit nichteinwilligungsfähigen Probanden. Beispielsweise könne die Frage, ob und in welcher Dosis ein Medikament gegen Demenzsymptome wirke, nur durch Tests mit den jeweils von der Krankheit Betroffenen geklärt werden; Tierversuche oder Tests mit gesunden Freiwilligen seien nicht hinreichend aussagekräftig. Für den Demenzkranken ohne persönlichen Nutzen, aber zwecks neuer Erkenntnisse wichtig sei der Einsatz invasiver diagnostischer Methoden. Dazu zählen Hirn-Computertomographien und Untersuchungen des Hirnstoffwechsels, wobei der Patient radioaktiv markierte Substanzen einatmen muß.
Solche fremdnützigen Eingriffe führten „zu keinerlei funktionellen oder substantiellen Schädigungen des Patienten“, schreiben die Wissenschaftler in ihrem 1995 veröffentlichten Buch „Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?“. Gleichzeitig räumen sie aber ein, daß es sich bei den von ihnen empfohlenen Arzneimittelerprobungen, Belastbarkeitstests, Befragungen und Diagnosemethoden „nicht immer um Verfahren“ handeln werde, „bei denen sich jedes gesundheitliche Risiko für die Versuchspersonen ausschließen läßt“. Trotzdem unterstellen Helmchen und Kollegen „ein soziales Verpflichtungsgefühl“ bei den Probanden; aus „Solidarität mit den Erkrankten zukünftiger Generationen“ seien viele Demenzpatienten angeblich bereit, sich Humanexperimenten zu unterziehen. Das europäische Abkommen zur Biomedizin erlaubt den Beitrittsstaaten, was Helmchen und Kollegen gern tun würden. Daran ändern auch andersklingende Darstellungen nichts, die Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) immer wieder verbreiten läßt. Die Standardbeispiele seines Hauses für fremdnützige Forschungseingriffe an Nichteinwilligungsfähigen lauten: Entnahme von Blut-, Urin- und Speichelproben, Wiegen, Messen, Befragen oder Beobachten.
Doch diese Aufzählung ist nicht mehr als eine unverbindliche Interpretation. Der Konventionstext enthält derartige Definitionen nicht. – Zumindest einige deutsche Wissenschaftler haben größere Pläne. „Natürlich geht es hier nicht nur darum, komatösen Patienten Blut abzunehmen, so niedlich sehen wir die Dinge in der Tat nicht“, erklärte zum Beispiel der Neurologie-Professor Karl Max Einhäupl im vergangenen Jahr während einer Anhörung zur Biomedizin-Konvention im Berliner Abgeordnetenhaus. Der Mediziner berichtete von seiner „Apalliker-Studie“, die er am Klinikum Charité der Berliner Humboldt-Universität leitet. Versuchsteilnehmer sind Menschen, die aufgrund schwerer Hirnverletzungen in tiefe Bewußtlosigkeit gefallen sind – „apallisches Syndrom“ lautet die medizinische Diagnose. Die Patienten scheinen nicht ansprechbar zu sein; doch sie atmen und zeigen körperliche Regungen, haben Wach- und Schlafphasen und geöffnete Augen. Deshalb wird ihr Zustand auch „Wachkoma“ genannt. Jedes Jahr geraten hierzulande mindestens 3.000 Menschen ins Wachkoma. Die Ursachen sind vielfältig: Sport- oder Verkehrsunfall, Tumor, Schlaganfall, Blutungen oder Entzündungen im Gehirn.
Für die Beforschten sei ein Nutzen „geradezu ausgeschlossen“, versicherte Einhäupl, und Linderung oder Heilung seien mit seiner Studie auch gar nicht beabsichtigt. „Wir versuchen“, erläuterte er das Ziel, „Kriterien zu finden, die uns erlauben zu sagen, daß der Patient keine Chance mehr hat, zu einem kommunikativen Leben zurückzukommen.“
Zu diesem Zweck beobachtet Einhäupls Team mindestens 15 Wachkomapatienten mit einer Videokamera und testet unter anderem, wie sie auf bestimmte Reize reagieren. Von Interesse ist zum Beispiel, ob der Proband eine Miene verzieht, wenn ihm Schmerz zugefügt wird, etwa an Nase oder Fingernägeln. Zum Programm gehört auch die „Blitzstimulation der Augen“. Dabei wird gemessen, ob bei Einsatz von Flackerlicht eine verstärkte Hirndurchblutung auftritt. Gibt es keine Veränderung beim bewußtlosen Patienten, gehen die Wissenschaftler davon aus, daß seine Großhirnrinde zerstört ist.
Wozu die Ergebnisse seiner Studie dienen sollen, faßte Einhäupl, der Direktor der Charité-Klinik für Neurologie ist, so zusammen: „Sollten wir zu dem Resultat kommen, durch die Untersuchung von – ich nenne irgendeine Zahl – 100 Patienten, daß bei allen 100, bei denen dieser Befund vorlag, keine Chance einer Restitution besteht, dann würden wir in Zukunft Patienten, bei denen wir den Befund erheben, von einer weiteren Therapie und Behandlung ausschließen.“
Seine „Apalliker-Studie“ sei von der deutschen Rechtslage „sicherlich abgedeckt“, meint Einhäupl. Allerdings räumt er ein, daß er keine Stellungnahme einer Ethik-Kommission eingeholt habe. Das überrascht, da die vom Deutschen Ärztetag beschlossene Musterberufsordnung ausdrücklich vorsieht, daß sich der Forscher vor Beginn einer medizinischen Studie am Menschen durch eine Ethik-Kommission beraten lassen muß. Inwieweit Angehörige der Patienten die sogenannte „Apalliker-Studie“ unterstützen, will Einhäupl auf Anfrage nicht verraten.
Zumindest bei einigen Eingeweihten ist die Berliner Studie auf Kritik gestoßen. „Auf das schärfste“ lehnt sie der Selbsthilfeverband „Schädel-Hirnpatienten in Not“ ab, in dem Angehörige von Menschen im Wachkoma zusammengeschlossen sind. Der Vorsitzende des Verbandes, der bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Armin Nentwig, schreibt: „Professor Einhäupl ist dabei, sich einen Namen zu machen als Gegner der Rehabilitationschancen für Schwerstschädelhirnverletzte und Komapatienten. Seine Argumentationen sind unmenschlich und bringen die Arbeit der Reha-Einrichtungen in Mißkredit.“ Nentwig beobachtet Einhäupls Aktivitäten schon lange: Bereits 1989 hatte der Neurologie-Professor bei einer Sachverständigenanhörung im bayerischen Sozialministerium erklärt, daß zwar jeder hirngeschädigte Patient ein Recht auf angemessene Behandlung und Rehabilitation habe, jedoch unter Kostengesichtspunkten auch eine Grenze gezogen werden müsse.
Mehr Anerkennung findet der Berliner Forscher bei höchster Stelle. Bundespräsident Herzog hat Einhäupl erst vor zwei Wochen in den Wissenschaftsrat berufen. Das Expertengremium erarbeitet Vorgaben zur inhaltlichen und strukturellen Entwicklung von Hochschulen und Forschung, „die den Erfordernissen des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens entsprechen“. Klaus-Peter Görlitzer
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