: Träume enden in den Gropius-Passagen
■ Wie das Versprechen auf eine Traumrolle bei "Marienhof" die jugendlichen Fans in ein Berliner Einkaufszentrum lockt
Am namenlos-rustikalen Bierausschank geht alles seinen gewohnten Gang: „Uuh la paloma blancaah ...“ dudelt es von dort über die Köpfe der nachmittäglichen Asbach-Kundschaft hinweg durch die Gänge des Berliner Einkaufszentrums „Gropius-Passagen“. Keine 50 Schritte entfernt hat der „Marienhof“ seine Bühne aufgebaut: „Es wird viel passieren“ steht da in großen Lettern geschrieben und „... nichts bleibt mehr gleich / nichts bleibt beim alten / wie geha-habt ...“ rockt der Titelsong wieder und wieder auf die zahlreich erschienenen Zuschauer ein. Menschen, die man sich in nikotinvergilbten Plattenbauwohnzimmern vorstellt, wie sie ihr Schicksal bejammern, und eine nicht geringe Anzahl Teenager und Teenagerinnen, die aussehen wie zur Unzeit für die Provinzdisco herausgeputzt.
„O Gott! Das wird ja der Horror!“ stöhnt Patricia Pantel, „Radioquasselstrippe“ beim ORB-Jugendsender Fritz, bevor sie die Bühne betritt, den versammelten Gaffern ein betont munteres „Hallooo!“ entgegenschmettert und das Procedere erklärt.
Am Ende wartet das „finale Casting“
Sie erklärt, daß die Soap „Marienhof“ nun einen „Casting-Contest“ veranstalte, daß der „Marienhof“ zwei neue Rollen besetzen wolle und Interessenten sich vorab per VHS-Kassette bewerben konnten, daß Heike, Janine, Sandra, Lars, Frank und Robert – sowie zwei Kandidaten aus dem Publikum vor Ort – heute in einer kleinen Szene ihr Talent unter Beweis stellen könnten und daß sich am Ende zwei der acht Kandidaten für das „finale Casting“ am 6. März bei der Bavaria Film in München qualifizieren.
Was Patricia „Quasselstrippe“ nicht verrät, ist das eigentliche Ziel der Aktion. Denn daß hier für zwei neue Schülerrollen gecastet werden soll, ist nur die halbe Wahrheit. Schließlich hat „Marienhof“ in den vergangenen drei Jahren über 300 Rollen auch ohne Einkaufszentrum-Events besetzen können. Gleichwohl zeigt sich die zweite Daily Soap im Ersten, die tagein, tagaus im Windschatten der „Verbotenen Liebe“ zu den Zuschauern segelt, schon seit längerem rührig. Im vergangenen Jahr kaufte man sich für eine viertel Million als Hauptsponsor in die Love Parade ein und verewigte den Techno- Ausflug im Drehbuch.
„Allein die Tatsache, daß Sie sich noch daran erinnern“, sagt ARD-Redakteur Burchard Röver zur versammelten Presse, „zeigt doch, daß sich der Aufwand gelohnt hat.“ Der Aufwand der Casting-Aktion zielt indes in erster Linie auf die Fernsehzuschauer in den neuen Ländern. Die sollen stärker für den Alltag im fernen, fiktiven Kölner Stadtviertel interessiert werden. Schließlich liegt die Ostquote mit durchschnittlich 14,5 Prozent Marktanteil dauerhaft unter den 16,5 Prozent im Westen, weshalb als weitere Casting-Stationen auch nur Konsumtempel in Rostock, Magdeburg und Leipzig eingeplant wurden.
Doch im Einkaufsparadies (das merkwürdigerweise im Berliner Westen liegt, aber vielleicht weiß man bei Bavaria in München darüber nicht so gut Bescheid), spielt Patricia Q. erst einmal Schicksal. Sie hält Ausschau nach den zurechtgemachten TeenagerInnen im Publikum und bittet Sören (Bomberjacke, Combats, Neon- Ohrring) und Sandra, („extra aus dem Wedding hergefahren“) zuerst auf die Bühne und von dort alsbald zum Textelernen.
Schließlich lautet das Versprechen „Es wird viel passieren“, stehen schon „echte Marienhofer“ in den Startlöchern: „Hallo Berlin!“ rufen sie und stolpern plateaubeschuht ins Rampenlicht. Und während „Tinka“ und „Tom“, „Billi“, „Sven“ und „Annalena“ ins Mikro plaudern, daß ihnen ihre Rollen eigentlich ein bißchen zu „dumpfbackig“ seien, sitzen in einer Ecke des nur dürftig abgesperrten Backstage-Bereichs zwischen Grippostad- und NeoAngin-Schachteln, Pappbechern und Popcornkrümeln die beiden Publikumskandidaten Sören und Sandra und lernen ihren Text.
Sie lernen ihren Text, als ihre sechs Mitstreiter dem Publikum vorgestellt werden, und lernen ihren Text, derweil sich die „echten Marienhofer“ mit Rauchen, kleinen Albernheiten, Rauchen und Nachgeschminktwerden die Zeit vertreiben und kleine türkische Jungs brüllen: „Ey, krieg ich'n Autogramm auf meine rechte Arschbacke!“
Inzwischen gibt es – „Soll ich dich noch mal abfragen?“ – erste Annäherungen der Konkurrentinnen untereinander. „Ey, voll der Konkurrenzkampf!“ mischt sich nun auch Publikumskandidatin Sandra ins keimende Gespräch. Doch Vorrundenfinalistinnen, die aus 700 Mitbewerbern geangelt wurden und drei Wochen Zeit hatten, an ihrer Rolle zu feilen, haben für dahergelaufene Sandras, die irgendwer spontan aus den 300 Zuschauern gepickt hat, nur müde Blicke. „Ich wünsch' euch trotzdem viel Glück, ey“ nimmt Sandra einen zweiten Anlauf, um ihren Mitstreiterinnen sogleich die Adresse irgendeiner Casting- Agentur zu empfehlen, mit der sie selbst schon „gute Erfahrungen“ gemacht hat.
Dann aber ist es endlich soweit, und die Aspiranten dürfen mit einem der echten „Marienhofer“ ihre Szene vorspielen. Es läuft, wie überhaupt alles, wie am Schnürchen: Brav haben sie ihren Text gelernt (und vergessen), brav zeigen sie, was ihnen Kinderrevuen, Theater-AGs und Mittelaltermärkte an Schauspielkunst mit auf den Lebensweg gaben. Die mit zwei „Marienhofern“, zwei ARD- Redakteuren, der Executive Producerin und der Besetzungschefin hochkarätig besetzte „Jury“ trennt mit leichtem Kopfschütteln, zerfurchter Stirn und wohlwollend geschürztem Mund die Spreu vom Weizen.
Wenn nicht daß Mikro runtergefallen wäre...
Ach, wie die Unterlegenen später ihren Freunden die Niederlage erklären werden: „O Mann, wenn mir doch bloß nicht das Mikro runtergefallen wäre...“ werden sie sagen oder: “... und dann haben irgendwelche Blödbacken Sachen auf die Bühne geworfen, und ich war raus aus'm Text – totaler Blackout ...“
Denn, es haben, obgleich doch die Besetzungschefin ihre Vorzüge hervorhob, weder Sandras „Spielfreude“ noch Janines „unglaubliche Überzeugungskraft“ die Jury für sich einzunehmen verstanden. Auch Publikumskandidatin Sandras „Mut“ vermochte nicht zu überzeugen, nicht Sörens „Spontaneität“, Lars' „Glaubwürdigkeit“ und nicht Roberts „Durchhaltevermögen“. Weshalb die sechs nun – bepackt mit einem Rucksack voller „Marienhof“-Produkte und Autogrammkarten – wieder in das ungewisse Schicksal entlassen werden, aus dem sie in die Passage kamen.
Übrig bleiben Heike Warmuth und Frank Großkopf und lächeln in die Kameras.
Doch da mault Sandra aus dem Wedding auch schon „Ey, so'n Shit!“ und sieht in ihren letzten Gesprächsversuchen mit diversen „Marienhofern“ („Falls ihr vielleicht doch noch ...“) die soeben noch zum Greifen nahen Felle endgültig davonschwimmen. Es wird nicht mehr viel passieren. Der Bierausschank hat auch schon geschlossen. Christoph Schultheis
„Marienhof“ on Tour:
heute: Rostock (CineStar)
21.2. Magdeburg (Warner Village)
28.2. Leipzig/Günthersdorf (UCI Kino Saale Park)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen