: Feuriger Volkstribun und scheue Schwiegertochter
■ In Indiens Wahlkampf drehte sich bisher fast alles nur um zwei prominente Galionsfiguren
Die Kolumnisten und Politologen verzweifeln: Hier ist ein Land, das nach fünfzig Jahren Freiheit immer noch in großer Armut steckt, mit demokratisch gewählten Politikern, die das System nur als Pfründe betrachten. Ein Wahlkampf wäre die Gelegenheit, um abzurechnen, um Fragen zu stellen, wie sich Politiker Korruptionsvorwürfe erklären oder die Verdreifachung der Zwiebelpreise oder die Bomben, die immer wieder hochgehen. Doch statt dessen warten die Leute stundenlang in der brennenden Sonne, um Atal Bihari Vajpayee zuzuhören oder um Sonia Gandhi zu sehen, die mit dem Helikopter herabschwebt, zehn Minuten redet und wieder verschwindet. Vajpayee erklärt nicht das politische Programm der BJP, und Sonia Gandhi bezieht sich überhaupt nie auf das Wahlmanifest der Kongreßpartei. Und doch waren sie die einzigen Exponenten dieses Wahlkampfs.
Der Wahlkampf von 1998 dreht sich beinahe ausschließlich um diese beiden Persönlichkeiten. Auf der einen Seite sticht das scharfe Profil eines 72jährigen Mannes hervor, der sein ganzes Leben im Rampenlicht der Politik verbracht hat. Auf der anderen Seite die verschwommenen Konturen einer Frau, die bis vor einigen Wochen den Blitzlichtern der Fotografen ängstlich ausgewichen ist.
Vajpayee ist ein Mann des Worts – der beste Redner, den das indische Parlament hervorgebracht hat, ein Mann, der von Volksreimen nur so übersprudelt. Er war viele Jahre Journalist und Redakteur, und er ist ein beachtlicher Lyriker.
Von der publikumsscheuen Sonia Gandhi dagegen heißt es, sie habe als Frau von Premierminister Rajiv eine einzige Rede gehalten. In den USA 1986, sie war genau neun Worte lang: „Ich werde nur zwei Worte sagen: Es lebe Indien!“
Auch die Herkunft der beiden könnte nicht unterschiedlicher sein: Vajpayee stammt aus dem Herzen Indiens, ist der Sohn eines brahmanischen Schullehrers in Gwalior, der sich schon als Sechzehnjähriger gegen die britische Kolonialherrschaft engagierte und dann in der Politik hängenblieb.
Sonia Gandhi ist eine von drei Töchtern eines kleinen italienischen Geschäftsmanns aus der Nähe Turins. Sie wollte als Au- pair-Mädchen nach England gehen, landete in einer Sprachschule in Cambridge und lernte dort Rajiv Gandhi kennen. Sie heirateten. Beide wurden gegen ihren Willen in die Politik gezogen: Rajiv, weil Indira nach dem Tod ihres ehrgeizigen Sohns Sanjay einen politischen Erben wünschte. Sonia, als sie, sieben Jahre nach dem Tod ihres Mannes, dem Drängen der Kongreßpartei nachgab und bereit war, für sie Wahlreden zu halten. Während Vajpayee offen das Amt des Premierministers anstrebt, sagt Sonia Gandhi, sie sei nicht an einem politischen Amt interessiert.
Beide Politiker sind nicht die Verkörperung ihrer jeweiligen Partei, sondern sind eine Art „Maske“. So jedenfalls bezeichnete der BJP-Ideologe Govind Acharya die Rolle Vajpayees: Er soll das versöhnliche Gesicht der BJP zeigen, das nötig ist, damit die Partei Wahlallianzen eingehen und eine Mehrheit gewinnen kann.
Sonia Gandhi ist ebenfalls eine Galionsfigur, deren Beziehung zur Kongreßpartei eine symbolische ist. In keiner ihrer Reden fielen irgendwelche programmatischen Äußerungen, und während sie die Korruption anprangerte, saßen die korrupten Politiker behaglich hinter ihr auf der Tribüne. Und ihre Weigerung, ein politisches Amt zu übernehmen, läßt die Partei weiterhin in einem politischen Vakuum schweben, um so mehr, als die ganze Führungsspitze diskreditiert ist.
Ebenso wie die Gegensätze haben diese Ähnlichkeiten der beiden Protagonisten des Wahlkampfs dessen Gesicht bestimmt. Sie bescherten dem Land das Schauspiel eines ausgemachten politischen Haudegens und einer scheuen Ausländerin, die sich in stockendem Hindi als Schwiegertochter Indiens bezeichnete. Während sich Vajpayee bemühte, von der radikalen hinduistischen Vergangenheit seiner Partei loszukommen und eine nationale Integration zu beschwören, war es allein die Vergangenheit in Form der Nehru/Gandhi-Dynastie, die für Sonia Gandhi den Zusammenhalt des Landes garantierte.
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