: Wenn die Schrift Luft holt
■ Franz Kafkas „Process“, Frederike Freis „unsterblich“und andere bei den Misswahlen der „Schönsten deutschen Bücher 1997“
Aus der Masse der alljährlichen Neuerscheinungen von über 75.000 Titeln treffen nicht nur die Leserinnen und Leser ihre subjektive Bücherauswahl – getreu dem Motto Arthur Schopenhauers „Lesen heißt, mit einem fremden statt mit dem eigenen Kopf denken.“Auch die Stiftung Buchkunst wählt jedes Jahr aus, indem sie „die schönsten deutschen Bücher“prämiert. Die Jury prüft, welche Schrift verwendet, welche Einbandgestaltung gewählt, welche Papier- und Druckqualität spürbar, ob die Harmonie von Inhalt und Gestaltung sichtbar wird.
In Zahlen manifestiert sich der Schönheitsstreit der Bücher eines Jahres wie folgt: 846 Titel aus 346 Verlagen nahmen 1997 teil, davon erhielten 49 die begehrte Auszeichnung „schönstes Buch“. In ihrer ganzen haptischen, optischen und gedanklichen Qualität aber lassen sich die Schönsten deutschen Bücher 1997 derzeit in einer Ausstellung in der Springer Passage erleben. Hier wird die Buchherstellung sichtbar und begreifbar, denn die Präsentation fordert zum Befingern, zum Blättern, Bestaunen und Lesen auf: Brechts Gedichte Über Verführung sind in der serifenlosen Rotis-Schrift Otl Aichers gesetzt, deren Nüchternheit wunderbar mit der Sinnlichkeit der Poesie kontrastiert; ein Kunstband über Plastics + Design ist entsprechend in grellem Plastik gehalten und vermittelt die Einheit von Form und Inhalt; Pietro Aretinos 1 Modi, Stellungen eröffnen ein Panorama erotischer Möglichkeiten, dessen Vielfalt sich auch in der Typographie niederschlägt; die Faksimile-Ausgabe von Franz Kafkas Process wird nicht als geschlossener Band, sondern analog zur ungeklärten Anordnung der einzelnen Teile in mehreren Heften im Schuber dargeboten, so daß der Leser „seinen“Process zusammenstellen kann; und Frederike Freis unsterblich lockt mit einem außergewöhnlich gesetzten Buchstabenstrom zum Weiterlesen – und zum Weiterleben.
Offensichtlich stimulieren die Autoren die Kreativität der Buchhersteller – zum Nutzen der Leser, die zu ganz neuen Leseabenteuern aufbrechen können. Aus diesem animierenden Dialog von Buchschreibern und Buchkünstlern entstehen bibliophile Preziosen ebenso wie attraktive Sach- und Lehrbücher, aber auch berückend illustrierte Kinderbücher.
Diese Präsentation schärft das Bewußtsein für die handwerkliche Güte von Büchern und bietet Gelegenheit, mit Buchgestaltern ins Gespräch zu kommen. „Eine Schrift muß atmen können“, sagt Karl Heinz Herget. Nicht zufällig sei die Times die am häufigsten verwendete Schrift, ihre Serifen schmeichelten dem Auge und lenkten es von Buchstabe zu Buchstabe. So können die Besucher nicht nur Zwiesprache mit den Bücherschönheiten halten, sondern auch mit Büchermachern. Und weil das Museum der Arbeit mittut, entstehen vor dem Publikum handgesetzte Druckwerke. Die Ausstellung ist also Augenweide und Sinnenschule gleichermaßen.
Frauke Hamann
Springer Passage, Caffamacherreihe 1, ist noch bis zum 3. März, tägl., 10 - 20 Uhr, Eintritt frei.
Abb./Texte aus: Frederike Frei „unsterblich“, Dölling und Galitz Verlag, Hamburg, 1997, Gestaltung: Groothuis + Malsy
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen