: Die verdächtige Pünktlichkeit der Züge
■ Ex-DDR-Autor, Ex-Prolet & Ex-Bremer-Literaturpreisträger Wolfgang Hilbig über seine Funktionalisierung durch den Westen als DDR-Kritiker, die Konstruktion von Wirklichkeit über den Gestank und den Luxus teurer Lesebrillen
Wolfgang Hilbigs Erzählungen sind Exerzitien der Genügsamkeit. Ein umgekipptes Bierglas in einem Bahnhofsrestaurant, das Auf- und Abschließen einer Kellertür oder eine Busfahrt über den holprigen Straßenbelag von Außenbezirken sind Stoff genug für die Bewältigung von zwei, drei, vier Seiten Text. Vom quirligen Reichtum der medialen Welt hält sich Hilbig fern. Er haushaltet mit seinen Inhalten wie eine kriegserprobte Trümmerfrau mit ihren Lebensmitteln, quetscht sie aus wie eine Zitrone, in der Hoffnung, daß die letzten Tropfen die intensivsten sind. Ein mauerblumiges Ding oder ein unscheinbarer Vorgang wird solange umkreist, umzingelt, umstellt mit Assoziationen, Erinnerungen oder mit einer Thomas Bernhardschen Hartnäckigkeit der Wiederholung, bis Alpträume daraus hervorsteigen. Der minuziöse Blick des Schriftstellers bläht eine alltägliche Wirklichkeit zu Psychothriller- und Horrorformat auf, wie es das Mikroskop des Biologen mit Ameisen tut. „Ich entwickle lange Textpassagen gerne aus einem kleinen Detail. In diesem suche ich nach dem Allgemeinen. Einen Mikrokosmos fasse ich auf als Abbild oder Keimzelle des Makrokosmos. Das ist ein bißchen so wie bei Fontanes Stechlin. Der See in der Provinz steht durch unterirdische Zuläufe mit der ganzen Welt in Verbindung.“Fast mit einer Art sportlichem Ehrgeiz scheint Hilbig nach der größtmöglichen Diskrepanz zwischen minimalem Stoff und maximalem Ausdruck zu fahnden.
In er Stadtwaage führte dieser Hungerkünstler seine Umkrei-sungstechnik vor, u.a. an einer sommerlichen Obstschwemme und dem Geruch von Büchern. Es handelte sich um neuste Gedichte, aber auch zehn Jahre alte Prosa. Denn das Entstehungsdatum ist bei Hilbig wurscht. „Stilistisch gibt es bei mir nicht die großen Wandlungen.“Die kleinen allerdings schon. Die Aufladung des Banalen funktioniert vielleicht nicht mehr so sehr durch jenen psychischen Hyperrealismus, der aus einer kleinen Verunsicherung eine Vernichtung macht und aus einem Geruch einen höllischen Gestank. Die Anreicherung geschieht später vielleicht mehr durch Metaphern und Assoziationen. Auch inhaltlich gibt es die großen Wandlungen nicht, noch nicht, denn: „In meiner Literatur bin ich immer noch nicht bei der Wende angelangt. Es gibt noch immer DDR-Erfahrungen, die abgearbeitet werden wollen. Literatur ist sehr langsam, langsamer als alle anderen Medien. Wahrscheinlich wird aber mein nächster Roman die Wende zumindest als Hintergrundfarbe beinhalten.“
Die Gelegenheiten seines Kommens mußte natürlich genutzt werden, um auszukundschaften, wie es denn war, damals 1994, als er in den Genuß des Bremer Literaturpreises kam. „Beim Fontane-Preis gehst du hin, sagst danke, holst dir dein Geld, Brief und Siegel, alles ganz unkompliziert. Hier in Bremen ist das ein Zeremoniell, ein würdevoller Staatsakt. Ich glaube, ich war damals der einzige in Jeans. Aber wenn man das so will, stört mich das nicht. Denn für Schriftsteller sind diese Preise absolut wichtig zum Bestreiten des Lebensunterhalts. Damit kann man sich einige Lesereisen ersparen. Langsam könnte ich so einen Preis wieder ganz gut gebrauchen.“Statt eines Preises hat er immerhin ein „Literaturstipendium“bekommen, zwei Monate Feldafing am Starnberger See. „Manchmal ist es sogar immer noch nett, sich mit Kollegen auszutauschen“, meint der 56jährige Stipendiat. Und bevor der Zug nach München fährt, erzählt er noch ein wenig von seinem Job.
„Ausgangspunkt des Schreibens ist immer irgendeine Erfahrung. Manchmal ist dieses autobiographische Substrat so homöopathisch dosiert, daß ich es nach einiger Zeit selbst nicht mehr weiß, was nun eigentlich der Anstoß zu einer Erzählung war. Diese biographische Basis darf man ruhig merken. So sind meine Helden schon mal Proleten mit literarischen Ambitionen oder Lesereisende wie ich.“Aber die Helden sind auch oft Versager, Zauderer, notorisch Überforderte. „Eher sind es Außenseiter. Auch Schriftsteller sind Außenseiter. Alle anderen, Lehrer, Rechtsanwälte, Verkäufer, vielleicht auch. Der Schriftsteller wäre dann eine paradigmatische Figur, die für alle stehen kann, nicht zuletzt deshalb, weil er heute – wie andere auch – von niemanden mehr gebraucht wird.“Kannte Hilbig dieses Gefühl der eigenen Überflüssigkeit auch in der DDR? „Immer, aber zunehmend stärker.“
Gerne wird Hilbig mit Kafka verglichen. „Germanistenzuordnungen. Ich sehe mich anders. Das fängt schon bei der Blickrichtung an. Bei Kafka geht es von unten nach oben, in der Großstruktur etwa beim Schloß, aber auch in den Details, zum Beispiel der Blick des Heizers auf die Freiheitsstatue in „Amerika“. Bei mir dagegen richtet sich das Interesse nach unten, bis in den Keller. Außerdem konstruiere ich meine Welt ganz elementar über die Sinne: das Gefühl von Schweiß und immer wieder der Geruch, dieser Sinn, den heute niemand mehr braucht.“Kaum ein Text ohne seltsame Körperabsonderungen, Krätze und Gefühle der Abspaltung von Körperteilen.
Ende der 70er Jahre kam Hilbig das erste Mal in den Westen. „Zwei Mal drei Tage. Meine ersten Westerfahrungen waren im Grunde keine. Ich sah äußerlichen Reichtum, Hektik, universelle Betriebsamkeit, Züge, die auf die Minute pünktlich kamen, reibungsloses Funktionieren allerorts, und es versetzte mich in Schrecken. Erst später gelang mir die Entdeckung, daß auch die Bundesbahn keineswegs immer pünktlich ist. Dennoch: hier wird der Mensch stärker funktionalisiert als in der ehemaligen DDR. Wider entgegenlautender Vorteile gab es in der DDR vielleicht mehr Individualisten als im Westen; – zumindest, wenn man unter Individualismus etwas anderes versteht als die eigenen Musik-, Kleidungs- und Ernährungsvorlieben.
In der DDR waren die Menschen wärmer und solidarischer. Im Westen wurde das vorschnell eingeordnet unter den Begriff Notgemeinschaft: Man hätte keine Wahl, müsse schließlich zusammenhalten. Doch das ist eine perspektivische Verfälschung, bedingt durch westliche Defizite. Eine Ausrede des Westens für die eigenen Deformierungen. Zwar sind die Figuren in meinen DDR-Texten allesamt Autisten, doch das ist eben nicht die vollständige DDR-Realität. Und selbst meine autistischen Welten sind oft durchaus ambivalent und keineswegs nur trist. Aber im Westen hat man mit Vorliebe nur das Niederschmetternde herausgelesen. Man nutzte es als Polemik gegen die DDR. Doch wenn meine Absichten so schlicht gewesen wären, dann hätte es genügt zu schreiben: ,Die DDR ist Scheiße' und fertig.“
Aber auch das Klischee vom westdeutschen Konsumvolk hat sich für Hilbig relativiert. Schließlich wird in den neuen Bundesländern heute öfter über Konsum geredet als in den alten. „In den Berliner Kaufhäusern tönt zehn Minuten vor Geschäftsschluß eine Ansage: ,Achtung wir schließen' – und zwar in Deutsch und in Russisch.“Vor allem für die Osteuropäer sind die Berliner Kaufhäuser moderne Heiligtümer. Und für Hilbig? „Oh, man ist universell verführbar.“Rolexuhr, Benzsofa, BMW, Tahiti? „Bücher. Meine gehorteten Büchervorräte werde ich zu Lebzeiten nicht mehr abarbeiten können. Autofahren kann ich nicht. Doch meine Lesebrille ist sündhaft teuer, 600 Mark, weil sie federleicht ist. Damit die Nase nicht abgeklemmt wird. Außerdem habe ich im Winterschlußverkauf zugeschlagen. Drei Pullis, um die Hälfte reduziert.“Hilbig trägt grau, einfarbig, schlichte Wolle. So schlimm kann die Verführung nicht sein. B.Kern
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