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■ NormalzeitNachruf auf eine Selbstanalytikerin

Die DDR-Dissidenz als nackte bzw. bärtige „Boheme“ westschnullimäßig aufzubereiten war schon eine rechte Sauerei. So richtig klar wurde mir das jedoch erst jetzt — nach Zusendung einer Künstlermappe über Heidemarie Härtl. Eine Kopie davon hatte jemand in der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum an die Rückwand der dritten Buchte mit einem Schloß befestigt: um der „politikvergessenmachenwollenden Ausstellungs- Konzeption“ entgegenzuwirken. Der Verbleib dieser Mappe ist unbekannt. „Meine“ Mappe enthält: ein Bleistiftporträt von Härtl, zwei Gedichte von ihr, eine „Gegenwartsvertretung“, das Farbphoto eines Ölbildes, die Geschichte des von ihr mitbegründeten „bergen verlags“ sowie der Zeitschrift „zweite person“, dazu Inhaltsverzeichnisse, einen Lebenslauf der Schriftstellerin und die kurze Notiz: „Heidemarie Härtl wurde 1982 auf dem Weg zur Beerdigung von Robert Havemann auf dem Leipziger Hauptbahnhof zusammen mit ihrem Ehemann Gert Neumann vor dem Zugfahrtantritt nach Berlin von Sicherheitsbeamten in Zivil, Deutscher Volks- und Bahnpolizei festgenommen. Der Abführung verweigerte sich Heidemarie Härtl durch unaufhebbares Setzen auf den Bahnsteig. Sie wurde in einer nicht zu übersehenden Aktion von dort mit einem Gepäckträgerwagen blumenwinkend in Trauerkleidung laut rufend quer durch den Bahnhof zum Bahnpolizeirevier gebracht.“

In ihrem Lebenslauf steht: Die Eltern waren FDJ-Funktionäre; ein Mitschüler denunzierte sie wegen Rias-Musikhörens; ein „Bauwesen“-Studium brach sie ab und arbeitete in einer Druckerei; sie heiratete Neumann, „dem es ähnlich wie mir ergangen war“. Sie bekam ein Kind, arbeitete in einer Kneipe, leitete einen Zirkel „Schreibender Pioniere“, schrieb Gedichte und sollte in den Schriftstellerverband aufgenommen werden.

Ende der Siebziger arbeitete sie in der Blindenbücherei, studierte Freud und Lacan. 1987 fuhr sie mit Neumann in den Westen, dort verließ er sie, „was ich wie ein Trauma erlebte, ich kehrte nach Leipzig zurück“. Mit Iris Brankatschk arbeitete sie sodann an einem Buch über die Französische Revolution.

„1990 zeigten sich unübersehbar die Symptome einer manifesten Psychose, die durch eine medikamentöse Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus und anschließende Selbstanalyse fast vollkommen geheilt wurde. Im Frühjahr 1991 wurde ich Mitglied der Internationalen Sozialistischen Arbeiterorganisation, las Leo Trotzki. Seit 1991 unterrichte ich in der GmbH Zukunftswerkstatt (kreatives Schreiben).“

Ergänzt sei noch: Wenige Tage vor den März-Wahlen 1990 bot Ibrahim Böhme ihr in seinem Schattenkabinett den Posten der Kulturministerin an, sie lehnte ab — mit der Begründung: „Dafür bin ich zu gut.“ In der „Gegenwartsvertretung“ für sie wird dazu erklärt: „Das eigene literarische Werk leben hieß für sie, neben poetischem Sprachgehalt selbstverständlich immer auch politische Handlung bis ins Privateste... Ein Vivat: Ihr Leben — Curatorin eines literarischen und bewußt politischen Lebens, das in einem Boheme-Katalog nicht vorkommen kann.“ Heidemarie Härtl starb im November 1993 — „fast einsam“. Helmut Höge

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