Mythos der sozialen Integration

■ In Bremen leben rund 15.500 Spätaussiedler / Knapp 40 Prozent sind arbeitslos / Ein soziales Netz gibt es kaum noch

„Bei den meisten Spätaussiedlern ist die Eingewöhnung gelungen. Die wenigsten gehen zurück.“

Mit stoischer Geduld hatten sich die 20 Bremer Sozialarbeiter im Haus von Sozialsenatorin Tine Wischer den Agit-Prop-Film über die Eingliederung der Rußlanddeutschen angehört. Bei diesem Satz aber lachte doch einer auf. „Zurück! Wohin?“Etwa nach Kasachstan. In die verlassenen Dörfer, die sie vor zwei, drei Jahren gen gelobtem Land verließen? Vielleicht um da jetzt, nach sechs Monaten Deutschkurs, die neue Nationalsprache Kasachisch zu lernen?

Gegen Ende der „Aktionstage Rußlanddeutsche in Bremen“– mit Referaten, Ausstellungen, Musik zum Leben der Deutschen in Rußland, der Rußlanddeutschen in Deutschland – wurde es gestern noch einmal konkret. Behördenvertreter und Sozialarbeiter diskutierten den Alltag der rund 15.500 Aussiedler in Bremen. Und guckten sich dazu viele Filmchen der Otto Benecke Stiftung an. Mit bunten Bildern über die Spätaussiedler als „Zukunftsinvestition in Deutschland.“

Das kann man so sehen. Vor allem wegen der Kinder. Wo die Situation der Aussiedler schöngeschrieben wird, da kommt gern die Sprache auf ihre Kinder. Weil die doch der Grund sind, warum sich in den letzten zehn Jahren 1.7 Millionen Menschen (vor allem) aus Kasachstan und Sibirien nach Deutschland rübermachten. So zumindest erzählen es in den Filmen des Bonner Bildungsträgers strahlende Babuschkas. Und weil die Aussiedler doch eine so feine Altersstruktur aufweisen: Mit doppelt so vielen Kindern und Jugendlichen und halb so vielen Alten wie bei uns einheimischen Deutschen.

Daß diese Altersstruktur auch zum mittelgroßen Knall führen kann, betonte Herbert Lüken, Leiter des Beratungsdienstes für jugendliche Aussiedler bei der AWO: „Wir haben da eine Zeitbombe ticken, die noch gar nicht absehbar ist.“Seit einem knappen Jahr ahnt man in Bremen etwas davon. Seitdem sich in Tenever Aussiedler mit jungen Tamilen prügelten. Oder als es im Dezember fast zu einer Auseinandersetzung mit türkischen Jungs in Bremen-Nord kam.

Vorbei mit dem Mythos von der soften Integration der Menschen aus dem östlichsten Europa? Realistisch gerechnet, so Siegmund Loppe, Leiter der Abteilung Spätaussiedler im Sozialsenat, seien heute 30 bis 40 Prozent der Aussiedler arbeitslos. In offiziellen Statistiken kursieren Zahlen von 6 bis 7 Prozent: Denn nach fünf Jahren gilt ein Rußlanddeutscher beim Arbeitsamt als Einheimischer. Der sprichwörtliche „Fleiß“der Aussiedler hilft ihnen heute oft nicht mehr. Zu eng ist der Arbeitsmarkt und zu gering nicht zuletzt die Deutschkenntnisse. Auch das Selbsthilfepotential der kleinen Bremer Bevölkerungsgruppe sinke mit den steigenden sozialen Problemen, betonte gestern Edda Schäfer aus dem Blickwinkel der Jugendgerichtshilfe.

Denn für Integration wird kaum noch etwas getan. Alles „was man denen so hinterherschmeißt“, so ironisch Siegmund Loppe, existiere doch schon seit fünf Jahren nicht mehr. Die Eingliederungbeihilfe. Oder der Deutschkurs: „Sechs Monate Sprachkurs, das ist doch ein Witz!“Dann laufe auch die geringe Eingliederungshilfe aus – die meisten landen in diesem Fall in der Sozialhilfe. Und die Rente: Seit Mai 1996 liegt die bei einem Pauschalsatz von 1.100 Mark. Mit Ehepartner bei 1.600 Mark. ritz

Für wen denn auch. Aussiedler haben ihre Lobby auf der Rechten verloren. Und bei der Linken gab's die sowieso nie. ritz