Kulturkampf als Glaubensfrage

Sehr wertebewegt verhandeln Senatskanzlei und Kirchen über die Einführung von Religion als ordentliches Lehrfach. Ablehnung bei Opposition und in den Schulen  ■ Von Bernhard Pötter

Wenn es am Dienstag zur dritten Stunde klingelt, trennen sich die Wege der drei Schulfreunde Karol, Calvin und Friedrich. Karol lernt im katholischen Religionsunterricht etwas über eine Welt frei von irdischen Ängsten. Calvin diskutiert mit seinem evangelischen Religionslehrer über die Freiheit eines Christenmenschen. Doch die größte Freiheit genießt der konfessionslose Friedrich: Er verbringt die Stunde beim Eis im Café gegenüber.

Diesen Genuß will ihm der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) nehmen. Gemeinsam mit den Kirchen plant die CDU die Einführung eines Wahlpflichtfaches Ethik/Philosophie, das allen SchülerInnen „sittliche Werte, beispielsweise Gemeinsinn, Toleranz und Nächstenliebe“ beibringen soll. Nach zweijähriger Pause verhandelt die Senatskanzlei seit Ende 1997 unter Ausschluß der Öffentlichkeit wieder mit der evangelischen und der katholischen Kirche über einen Staatsvertrag, der unter anderem den Religionsunterricht regeln soll. Einen Abschluß der Verhandlungen erhoffen sich Kirchen und CDU zum Frühjahr 1998, bereits zum Schuljahr 1998/99 könnte nach CDU- Vorstellungen das neue Wahlpflichtfach Ethik/Philosophie neben dem Religionsunterricht eingeführt werden.

Doch wer das glaubt, wird selig. Denn der Vorstoß von CDU und Kirchen wäre nicht nur das Ende des über 50jährigen Berliner Sonderweges beim Religionsunterricht, sondern auch eine erneute Belastung für die Große Koalition: Weite Teile der SPD lehnen gemeinsam mit der Opposition im Abgeordnetenhaus den Vorstoß ab. In einem „Aktionskreis für die Beibehaltung der Freiwilligkeit des Religions- und Lebenskundeunterrichts in Berlin“ laufen sie gemeinsam mit Humanistischer Union, Lehrergewerkschaft GEW und dem Landesschulbeirat Sturm gegen die „Verstaatlichung des Religionsunterrichts.“ Der Berliner Sonderweg, so ihre Forderung, soll erhalten (siehe Kasten) und der Einfluß der Kirchen auf die Schule möglichst verringert werden.

Seit Jahren liefern sich Parteien, Kirchen und Weltanschauungsgruppen einen Grabenkampf auf juristischem, finanziellen und politischem Terrain. Vordergründig ist die Debatte um den Unterricht eine „Wertediskussion“ darüber, ob und welche Wertvorstellungen den Kindern in der Schule vermittelt werden sollten. Im Hintergrund allerdings geht es darum, wer die „grundlegenden Werte“ der Gesellschaft definiert und damit um den gesellschaftspolitischen Einfluß der Kirchen – ein Kulturkampf, der von allen Seiten zur Glaubensfrage stilisiert wird.

Weil sich in Berlin die Schüler frei entscheiden können, machen sie auch frei: Zwei Drittel aller SchülerInnen entscheiden sich wie Friedrich – nur etwa 150.000 von 400.000 lassen sich in evangelischer oder katholischer Religion oder in Lebenskunde von der Humanistischen Union unterweisen. Durch diese Verführung zum Freimachen, so Abteilungsleiter Wolf- Dietrich Patermann aus der Kulturverwaltung, komme die Mehrheit der Schulkinder mit den „existentiellen Fragen des Lebens“ in der Schule überhaupt nicht in Berührung. Das ist für die Kulturverwaltung so etwas wie unterlassene Hilfeleistung an Schutzbefohlenen. Außerdem, so die Argumentation, könne sich Berlin als Hauptstadt nicht länger der „Systematik des Grundgesetzes“ entziehen, das Religion als ordentliches Lehrfach vorsieht. „Wir wollen auch in dieser Frage ein vollwertiges Bundesland sein“, betont Patermann.

Dazu gehört nach den Vorstellungen des Senats ein „ordentlicher Religionsunterricht“, wie er in allen Ländern außer Bremen, Berlin und Brandenburg stattfindet (siehe Kasten). In der Verwaltung heißt es, vor dem Umzug der Bundesregierung machten Bonner PolitikerInnen Druck für eine solche Regelung in der neuen Hauptstadt. Doch Senat und Kirchen haben noch einen anderen Grund für die Eile. Nach den Wahlen 1999 könnte ein rot-grün geführter Senat den Kirchen weit kritischer gegenüberstehen als die regierende Christenpartei.

Die Diagnose der CDU lautet: Die Orientierungslosigkeit weiter Teile der Jugend liege auch an einem fehlendem Angebot an Werten in der Schule. „Wer den Werteverfall und die schwindenden gemeinsamen Grundlagen unseres Staates erlebt und beklagt“, so Eberhard Diepgen, „kommt bei den notwendigen Gegenmaßnahmen an dem Religionsunterricht nicht vorbei.“ Die CDU-Fraktion hat eine Änderung des Schulgesetzes vorgeschlagen, um das Wahlpflichtfach einzuführen. Begründet wird das Vorhaben damit, daß „in einer Zeit mit immer stärker werdender Jugendkriminalität und ethischer Orientierungslosigkeit der Vermittlung von Werten eine neue Priorität zuerkannt“ werden müsse.

Vermittelt werde sollten daher die „wesentlichen Grundlagen unseres christlichen Abendlandes, die Sinnhaftigkeit unserer demokratischen Werte sowie die Notwendigkeit von Toleranz gegenüber Andersdenkenden.“ Doch die SchülerInnen sollten auch „,Tugenden‘ wie Verläßlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Disziplin, Tapferkeit und Mäßigung“ erlernen.

Diese Aufzählung der deutschen Sekundärtugenden bestärkt die Gegner der Vereinbarung in ihrer Furcht, Kirchen und CDU versuchten, heimlich per Staatsvertrag die ideologische Vorherrschaft über die Klassenräume zurückzugewinnen. Prompt lehnte die „Arbeitsgemeinschaft für Bildung in der SPD Berlin“ den CDU-Vorstoß ab. Es sei „unsinnig anzunehmen, daß ethische Überzeugungen über die Lerninhalte eines einzigen Faches vermittelt werden könnten“. Keine Änderung der bestehenden Regelung zum Religionsunterricht ist die Devise des „Aktionskreises“: Wertevermittlung sei laut Schulgesetz eine Aufgabe aller Fächer und könne nicht an ein Fach delegiert werden. „Fehlende Toleranz entsteht durch fehlende Kommunikationsbereitschaft der Schüler“, erklärte Monika Falkenhagen von der GEW auf einer Diskussionsveranstaltung zu dem Thema. Um dieser Tendenz entgegenzuarbeiten sei es gerade falsch, die Schüler „nach Religionen zu trennen“.

Die konservative Annahme, es gebe „keine ausreichende Werteerziehung“ sei „eine Legende“, meint Werner Schultz von der Humanistischen Union. Alle Studien zeigten ein „sehr hohes Wertebewußtsein“ bei den Jugendlichen. „Es ist doch eine absurde Behauptung, die Berliner Schüler seien wegen des freigestellten Religionsunterrichts weniger werteorientiert als die Schüler anderswo.“ Auch für den grünen Abgeordnete Dietmar Volk hängt die „Entwicklung der Jugendkriminalität oder die Vermittlung von Werten nicht von der Pflicht ab, am Religionsunterricht teilzunehmen, sondern von den Perspektiven, die die Gesellschaft jungen Menschen bietet.“

Strategisch geschickt hat Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) sich bisher nur darauf verlegt, eine verstärkte ethische Beziehung in den Unterrichtsfächern anzumahnen und auf eine interne Arbeitsgruppe zu diesem Zweck verwiesen. Zu der eigentlichen Frage, ob in ihrem Ressort zukünftig eine Politik gemacht werden solle, die ihre eigene Partei ablehnt, äußert sich Stahmer nicht. Mit gutem Grund: Nicht nur fürchtet sie, in diesem Kampf zwischen Basis und Koalitionsdisziplin zu geraten. Vor allem verweist Stahmer auf die ungeklärte rechtliche Situation.

Denn der Religionsunterricht ist juristisch ein heißes Eisen. Vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe liegen bereits seit 1996 die Klagen gegen das Modell Ethik-Unterrichts LER in Brandenburg. Für Berlin wichtiger allerdings ist die Klage eines 16jährigen Schülers aus Hannover vom August 1997: Der Schüler hatte sich dagegen gewehrt, als konfessionsloser Schüler zum Besuch des Ersatzfachs „Werte und Normen“ verpflichtet zu werden. Das Verwaltungsgericht Hannover gab ihm vorläufig recht und verwies den Fall wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung nach Karlsruhe. Sollte das höchste deutsche Gericht das Urteil bestätigen, ist damit die fast deckungsgleiche Idee von einem Berliner Wahlpflichtfach Ethik/Philosophie wohl gescheitert: „Das hier diskutierte Modell eines Ersatzfaches Ethik für Religion ist genau das Modell, das in Niedersachsen als verfassungswidrig bezeichnet wurde“, meint der Anwalt und Schulrechtsexperte Karsten Sommer.

Für die Kirchen ist der Verweis auf die rechtlichen Probleme nur Verzögerungstaktik. „Irgendeinen Prozeß wird es bei diesen Fragen immer geben“, sagt dagegen Hans- Hermann Wilke von der evangelischen Kirche. Er bestreitet nicht, daß gerade die evangelische Landeskirche Berlin/Brandenburg mit ihren extremen Geldsorgen auch ein finanzielles Interesse an einem solchen Wahlpflichtfach hätte: Denn statt der bisher 90prozentigen Subvention des Unterrichts durch den Staat müßte Berlin dann für alles aufkommen – eine Mehrausgabe von geschätzten 10 Millionen Mark für den ohnehin arg gebeutelten Landeshaushalt. Wilke vom „Institut für katechetischen Dienst“ und sein katholischer Mitstreiter Johannes Brune von der „Theologisch-pädagogischen Akademie“ weisen indes den Vorwurf zurück, sie wollten über die Einführung von Noten und ein daraus entstehendes großes Interesse für den Religionsunterricht neue Mitglieder für ihre ausblutenden Kirchen rekrutieren. Vielmehr gehe es um einen Kampf um den öffentlichen Raum, meint Wilke: „Wir wollen in den Schulen bleiben, damit wir auch in Zukunft in der Gesellschaft präsent sind.“ Der im realen Leben stattfindende Marginalisierung der ehemaligen Volkskirchen wolle man aktiv in der Schule entgegenarbeiten – „nicht nur für uns, sondern auch, um die Gesellschaft an ihre Werte und Traditionen zu erinnern“. Die Gegenbewegung versucht, den Einfluß der christlichen Institutionen in der Gesellschaft zu vermindern. Die Humanistische Union fordert eine „noch konsequentere Trennung von Schule (Staat) und Religions- beziehunsweise Weltanschauungsgemeinschaften“. Nicht zuletzt stemmen sich Kirchen und CDU mit den Plänen für das Wahlpflichtfach auch gegen den Trend: Die Großkirchen verlieren an Mitgliedern und Bedeutung, kleine Bekenntnisgemeinschaften gewinnen an Gewicht.

Der Glaubenskampf um den Religionsunterricht ist daher eigentlich ein Kulturkampf um die Stellung von Werten und Religionen in der Gesellschaft. Der allerdings wird zunehmend vor den Gerichten ausgefochten. Eine Einführung des geplanten Wahlpflichtfaches Ethik/Philosophie würde mit großer Sicherheit eine Klage nach sich ziehen, prophezeien die Experten. Eine Lösung des gesellschaftlichen Konfliktes bringt allerdings auch ein Urteil nicht, meint der renommierte Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig: Die Kirchen erstritten damit möglicherweise einen formalen Rechtsanspruch, „setzen aber die Glaubwürdigkeit ihrer Sache aufs Spiel.“