Trommeln, bis das Blut spritzt

Die Schwarzen machen in Uruguays Hauptstadt Montevideo gerade drei Prozent der Bevölkerung aus. Während des Karnevals gehört die Stadt ihnen – für eine Nacht  ■ Aus Montevideo Ingo Malcher

Das Blut, das von Ariel González' Hand auf seine Trommel spritzt, hinterläßt mit jedem Schlag immer mehr rote Flecken auf der grauen Lederbespannung. Mit zusammengekniffenen Augen hauen er und die anderen 20 Trommler seiner Gruppe auf ihre weinfaßgroßen Instrumente und ziehen dabei langsam im Takt an der Menge vorbei. Eine Stunde später hängt Ariel González die Haut nur noch in Fetzen von der Hand, das Blut läuft dem Vierzigjährigen langsam den Arm hinunter, das Hemd ist schon voller Flecken. Viele lassen sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände verbinden, um weitertrommeln zu können. Wer die Lederbespannung durchschlägt ist erlöst.

Auf der Straße ist kein Platz mehr, sie zu überqueren wäre unmöglich, die Zuschauer tanzen und klatschen. Die gepflasterte Straße wird immer mehr zum Lager für leere Bierdosen, die Kioske in der Gegend haben vorgesorgt und verkaufen den Treibstoff gut gekühlt. Es ist Karneval in Uruguays Hauptstadt Montevideo. Um Punkt 9 Uhr haben die „Llamadas“, der Karneval der Schwarzen, begonnen. In einem langen Zug tanzen und trommeln 14 Karnevalsgruppen durch Barrio del Sur und Palermo, die Viertel, in denen sie zu Hause sind. Es gilt, eine Karnevalskönigin und die beste Gruppe zu wählen.

Aus den Häuserbuchten mit den vielen Bäumen dringt von der Straße Carlos Gardel ein eintöniger Trommelrhythmus in das Viertel. „Es ist unheimlich toll, die Freude und Wärme der Leute zu spüren, man fühlt sich einfach gut“, erklärt Ariel González, warum er die Strapazen jedes Jahr mitmacht. Er ist schon seit vielen Jahren dabei, schon seine Eltern machten bei den Llamadas mit. Seine Mutter kommt aus einer afrikanischstämmigen Familie, sein Vater stammt von spanischen Einwanderern ab.

Nachdem er mehrere Stunden getrommelt hat, riecht er nach bitterem Schweiß. Sein blaues Kostüm ist total durchnäßt. Seine Hände sind mittlerweile notdürftig verbunden, doch das Blut hat sich längst durch die Binden gefressen. „Es ist wie eine Droge. Die Kraft der Trommeln geht direkt ins Herz und erhöht den Pulsschlag“, schildert er.

Parallel zu den Llamadas läuft in Montevideo der offizielle Karneval ab, „der Karneval der Weißen“, wie ihn Sylvia Trujillo (27) nennt, eine der Llamadas-Zuschauerinnen. „Doch der ist langweilig“, findet sie und nimmt einen großen Schluck aus einer geköpften Cola-Flasche, in der irgendein billiger uruguayischer Wein schwimmt. „Merkst du was?“ fragt sie, „die weiße Karnevalskönigin muß Tango tanzen können, die Schwarze muß das hier können“: Sie schüttelt die Hüften und tanzt Candombe.

„Es ist jedesmal eine große Feier“, freut sich Ariel González. „Ich kann die Energie der Trommeln richtig spüren, ich will tanzen und feiern, nichts mehr sonst spüren.“ Über seinem blutbefleckten Hemd trägt er eine Art glänzendblauen Bademantel. Am Kragen hängen weiße Rüschen, auf seinem Kopf sitzt ein blauweißer Hut. Die Verkleidung soll die Kluft symbolisieren, mit der die Sklaven damals in Montevideo ankamen.

Dahinter marschieren zwei große dicke Männer mit schwarzem Anzug und Fliege, die Eins- a-Mafiabosse für billige Vorabendserien hergeben würden. Die beiden jubeln der tobenden Menge zu, greifen sich eine Zuschauerin heraus, tanzen mit ihr einige Minuten zum Candomberhythmus und schicken die Dame danach machohaft, aber charmant in die Menge zurück. Ihr „Applaus für die Dame!“ geht in dem Lärm fast unter, dennoch wird tosend Beifall geklatscht – die nächste bitte.

Von weitem kommt langsam der einpeitschende Rhythmus der Trommler immer näher und drückt schon drohend in die Magengegend, auch wenn sie noch nicht zu sehen sind. Frauen in knappen Bikinis und Federschmuck ziehen Candombe tanzend an den Zuschauern vorbei. „Ursprünglich gab es bei den Llamadas keine Frauen in Bikinis. Und mit dem Federschmuck, das wurde vom Karneval in Rio importiert“, beschwert sich Ariel González später.

Zwei betrunkene Jungmänner läßt der Anblick der Tänzerinnen übermütig werden. „Bewegt euch, Mädels!“ fährt es aus ihnen heraus. Noch ein Schluck aus der Literflasche uruguayischen Nationalbiers, und noch mal, aber lauter, denn wahrscheinlich hat's ja eh wieder keiner gehört: „Na los, Mädels, bewegt euch schon. Wir wollen eure Hüften wackeln sehn! Na wird's bald!“ Die Umstehenden sind von der Bierfahne der beiden schon angetüdelt. Endlich tanzen die Frauen. „Ah, esa! Jawohl, das ist es, weiter, weiter, weiter! Jaaa!“ Einer von ihnen stürzt sich übermütig in die Gruppe der Bikini- Damen und tanzt mit holprigen Bewegungen mit. Seine braunen gelockten Haare hüpfen im Rhythmus mit, die Frauen grinsen und umtanzen ihn.

Die meisten der Trommler, Tänzer oder Fahnenschwinger sind schwarz, die Weißen eher die Zuschauer, obwohl mittlerweile auch viele von ihnen bei den verschiedenen Candombe-Gruppen mitmachen. Mehrere tausend Montevideaner und eine Handvoll Touristen sind an diesem Freitag auf den Beinen, bejubeln den Umzug, tanzen und klatschen mit. Viele junge Leute sind dabei, sie tragen die langen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, sind an der Seite rasiert und trinken Wein aus Tetra-Packs. Es riecht überall nach Haschisch.

Je später es ist, je mehr Alkohol die Kehlen hinuntergeflossen ist, um so mehr Leute tanzen mit. Polizisten mit blauen Helmen und Schlagstöcken versuchen die Straße freizuhalten, damit der Zug durchkommt. Noch bis vor wenigen Jahren lieferten sich Karnevalsbesucher und Ordnungshüter regelmäßig Straßenschlachten, nachdem die Feier zu Ende gegangen war. Seit aber die Polizei weniger Beamte schickt, bleibt es friedlich.

Zwei Mädchen springen immer wieder auf die Straße, um mitzutanzen. In den Musikpausen halten sie es kaum noch aus: „Ausziehen, ausziehen!“ brüllen sie von der Straße einer Gruppe Jungs zu, die es sich am Fensterbrett ihrer Wohnung bequem gemacht haben. „Wackelt mit euren Hintern!“ fordern sie. Die lassen sich das gerne gefallen, strecken ihren Hintern zum Fenster hinaus und wedeln ein bißchen, bevor sie sich gegenseitig das weiße T-Shirt ausziehen. Aber mehr ist nicht drin, auch nicht zum Karneval. Daher jetzt alle zusammen: „Aus-ziehn, aus-ziehn, aus- ziehn!“ schmettern die Mädchen, von einigen Freundinnen verstärkt, den Jungs zu, die zwar mit nacktem Oberkörper dastehen, aber nicht daran denken, auch nur den Hosengürtel ein Loch weiter zu öffnen.

Mit ohrenbetäubendem Lärm rücken die Trommler an. Das Klopfen dringt in Mark und Bein und hämmert im Brustkorb. Mit langen Kostümen und Hüten schlagen sie wie in Trance auf ihre Tontrommeln. Einige mit Stöcken, andere, wie Ariel González, mit der flachen, verbundenen Hand. Sie keuchen und schwitzen, ihre Gesichter sind vom Schmerz verkrampft, aber der Rhythmus zwingt sie weiterzumachen, läßt kein Entkommen zu. Alle klatschen mit, hüpfen, tanzen den Candombe. Die Straße bebt, es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Zuschauer und Akteur.

Dann plötzlich: Stopp! Die Trommeln schweigen. Nur noch die Zuschauer klatschen den Rhythmus und tanzen weiter. Ein Kunstgriff – auf einmal, rums!, setzen die Trommeln wieder ein. Der Zug ist zum Stehen gekommen, die Lautstärke kaum mehr auszuhalten, alles tanzt, Kinder werden auf den Schultern mitgeschaukelt, einige hoch erfreut, andere sichtlich von dem Lärm und der Masse überwältigt. „Das ist wie eine Hypnose“, schildert Ariel González seinen Zustand. „Du trommelst und kannst gar nichts anderes machen, das Gehirn ist ausgeschaltet. Den Schmerz in der Hand spürt man überhaupt nicht, erst hinterher wird es schlimm.“

Weit nach Mitternacht zieht seine Frau Cecilia ihm nach überstandenen Strapazen den Verband ab. Das Blut hat die Binden zusammenkleben lassen, und Ariel González stöhnt, als die Wunde freigelegt wird. Seine Frau rümpft die Nase, weil er „vor Schweiß stinkt“, die Klamotten sind naß, als kämen sie gerade aus der Waschmachine. „Candombe gibt es zwar das ganze Jahr, aber nur zum Karneval kommen auch Gruppen aus den Provinzen des Landes“, erzählt Ariel González. Seine Frau schüttet ein Desinfektionsmittel über seine Hände, er flucht, und Durst hat er, als sei er barfuß einen Tag ohne Wasser durch die Wüste gelaufen. Etwas verschüchtert steht er mit seiner Frau an einer Straßenecke und wartet auf seine Karnevalskollegen. Erschöpft ziehen sie sich zusammen zurück, um noch den Rest der Nacht mit den anderen gemeinsam zu feiern.