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Eine Stadt im Ausnahmezustand

Nach dem Erdbeben versuchen zehn Hilfsorganisationen die Menschen in der nordafghanischen Stadt Rostak mit dem Nötigsten zu versorgen. Doch Transporte mit Hilfsgütern kommen oft nicht zu den umliegenden Dörfer durch  ■ Aus Rostak Elke Hagenau

Zwei Wochen nach den verheerenden Erdbeben in Nordafghanistan bricht der graue Himmel über Rostak plötzlich auf. Auf den verschlammten Straßen der kleinen Stadt herrscht an diesem Markttag reges Treiben. Händler bieten ihre Waren an, Gummistiefel, Bonbons, Stoffe, Tee. Die Käufer sind schon früh zu Fuß oder auf einem Esel aus den Dörfern gekommen. Plötzlich landen hintereinander zehn Hubschrauber. Das hat die Stadt noch nie erlebt. Die Menschen stehen in langen Reihen rund um den provisorischen Landeplatz, rennen los, laden Säcke ab oder schauen dem Treiben zu.

Die internationalen Hilfsorganisationen versuchen, die Gunst der Sonnenstunden zu nutzen. Die Show allerdings stehlen ihnen zwei andere Transporter – einer aus Rußland und einer von den Taliban, jenen strengen Islamisten, die Kabul Herbst 1996 erobert haben. Während das Internationale Rote Kreuz und die Welthungerhilfe nur kleine tadschikische Hubschrauber chartern konnten, kommen die russischen Spezialisten mit riesigen Helicoptern angeflogen. Sie haben 26 Tonnen Kindernahrung, medizinisches Gerät, Ärzte und ein eigenes Fernsehteam an Bord. Gleichzeitig treffen 24 Lkws der Taliban aus Qondoc ein. Sie bringen 100 Tonnen Weizenmehl, 100 Tonnen Reis und 2.000 Millionen Afghanis, etwa 30.000 Dollar, mit. Die Taliban, angeführt von Mohameed Salem Bakhtiar, versichern genauso wie der Russe Alex Bepekhtin, daß sie ausschließlich humanistische Hilfe leisten wollen. Doch zumindest die Taliban handeln nicht nur aus uneigennützigen Motiven. Denn das Erdbebengebiet wird von der Anti-Taliban- Koalition unter General Raschid Dostum beherrscht.

Die Aufmerksamkeit, die diesen beiden Transorten zuteil wird, wird am nächsten Tag noch von einer pakistanischen Hilfslieferung übertroffen. Ein kleines Flugzeug taucht im Tiefflug über den Dächern der Stadt auf. Der Flieger dreht fünf Runden und läßt mehrere Pakete fallen, die gleich hinter dem letzten Zelt landen. Da alles glimpflich abläuft, freuen sich die Vertreter des Internationalen Rote Kreuzes am Ende mehr, als sie sich empören.

Mittlerweile arbeiten zehn internationale Hilfsorganisationen in Rostak. Zwei Tage dauerte es, bis die Nachricht über das Beben bekannt wurde, nach vier Tagen trafen die ersten Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ und das Internationale Rote Kreuz ein. Sie leisteten erste Hilfsmaßnahmen, errichteten ein Hospital und Notunterkünfte. Das anhaltende schlechte Wetter erschwert bis heute die Arbeit.

Zur Zeit leben etwa 5.000 Flüchtlinge in Rostak, dreißig Dörfer in einem Umkreis von 20 Kilometern sind fast völlig oder teilweise zerstört. Wie viele Menschen noch in den Ortschaften leben, kann niemand sagen. Man geht von 1.500 bis 3.000 aus. Die Zahl der Obdachlosen wird auf 15.000 bis 30.000 geschätzt.

Der Euphorie des sonnigen Tages folgt die Ratlosigkeit. Die schweren Jeeps des Internationalen Roten Kreuzes und der UNO wühlen zwar kräftig den Schlamm der Straßen von Rostak auf, aber bis in die vom Beben betroffenen Dörfer gelangen sie nicht. Deshalb ist die Versorgung nur in den sieben Lagern in und rund um die Stadt gesichert.

Seit den Schneefällen vom vergangenen Wochenende ziehen viele Menschen aus den Dörfern in die Provinzstadt. Andere bleiben in den Dörfern. Hungernd und frierend sitzen sie auf den Trümmern und warten auf Hilfe.

Ghanj, das größte Dorf, liegt etwa 17 Kilometer von Rostak entfernt und ist am meisten zerstört. Der Weg dorthin führt an dem mehreren hundert Meter langen Riß entlang, den das Beben in der Erde hinterlassen hat. Außer Bergen, Geröll und Schnee hat die Landschaft nichts zu bieten. Der Weg ist notdürftig ausgebessert. Vor dem Dorf liegt der Friedhof. Seit zwei Wochen sind 100 Gräber hinzugekommen. Zwei verschleierte Frauen knien vor den aufgeschütteten Hügeln und weinen. In jedem dieser Gräber liegen bis zu sieben Leichen. Zwischen den am steilen Berghang zusammengerutschten Hütten haben die Dorfbewohner Strohzelte aufgebaut. Wie durch ein Wunder blieb das eine oder andere Haus unversehrt.

Der schmale Weg durch das Tor führt über Trümmer an Tierkadavern vorbei. Neugierig kommen Kinder angerannt. Ihre nackten Füße stecken in Gummigaloschen. Die Lippen blaugefroren, starren sie jeden Neuankömmling an.

Längst schon wären die Menschen in dieser Region verhungert oder erfroren, wenn sie sich nicht immer wieder selbst und gegenseitig geholfen hätten. Sie teilen ihre Wintervorräte und trauern gemeinsam. In einem der Zelte haben die Frauen von Ghanj die Kleidungsstücke ihrer toten Angehörigen als Andenken auf einen Tisch gelegt. Draußen fällt dichter Schnee. Einmal waren die Hilfsorganisationen schon da. Ein Mann zeigt eine Packung Trockennahrung und hält einen gehäkelten Kinderpulli hoch. Mehr habe er nicht bekommen.

Seit einer Woche erklären die Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes und die UN, die Versorgung der Erdbebenopfer mit Lebensmitteln sei gesichert, die medizinische Betreuung unter Kontrolle und genügend Spezialisten vor Ort. Nur der Transport in die Dörfer klappt nicht. Nach Ghanj versuchten vor wenigen Tagen drei Lastkraftwagen des Internationalen Roten Kreuzes und der Deutschen Welthungerhilfe durchzukommen. Kurz vor dem Dorf blieb der Konvoi stecken. Die Säcke erreichten Ghanj trotzdem. Die Dorfbewohner schleppten sie auf dem Rücken weg. In Rostak ist die Stimmung gedrückt. Die russischen Spezialisten langweilen sich in ihrer Behausung und das Internationale Rote Kreuz verhandelt mit Eseltreibern. In den nächsten Stunden oder Tagen sollen 200 Maultiere von Rostak aus in die Erdbebendörfer ziehen. So wie schon vor Hunderten von Jahren.

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