■ Die umjubelte Sopranistin Renata Scotto feierte ihren 65. Geburtstag. Eine Huldigung Von Frank Siebert
: Viel mehr als eine schön singende Diva

Fast 50 Jahre währt Renata Scottos Karriere schon. Sie gehört zu den Extremgestalten der Opernszene. Ihre Stimme kann schneidende Intensität erzeugen und Opernfiguren in menschlichen Grenzsituationen wirklich werden lassen. Lange Zeit stand die Sängerin im Schatten der berühmten Maria Callas. Doch längst hat sie ihr ganz eigenes Profil gefunden. Im Sommer wird diese Legende der Gesangskunst beim Schleswig-Holstein Musik Festival mit einem Liederabend zu hören sein. Selten pflegen berühmte Operndiven den Leistungen von Kolleginnen mit Respekt, Anerkennung oder Lob zu begegnen. Die eigene Größe ist ihnen gewöhnlich Maßstab genug, an dem die Konkurrenz kläglich scheitern muß. Um so erstaunlicher, daß Zinka Milanov, eine der bedeutendsten Sopranistinnen der Nachkriegsära, berühmt für ihre schwebenden Pianissimi auf der Bühne und hinter den Kulissen berüchtigt für ihre Boshaftigkeiten gegen Kollegen, bei Renata Scotto die große Ausnahme gemacht hat: „Ich liebe die Botschaft ihrer Stimme“, sagte sie und traf damit genauer als jede Gesangsanalyse es vermag ins Schwarze.

Gleichgültig, ob auf der Opernbühne, im Konzertsaal oder auf Platte, die Scotto vermag mit ihrem Gesang – einem Amalgam aus archaischer Triebwucht und raffiniertem Vokalismus – dem Zuhörer tatsächlich eine „Botschaft“ zu senden, wozu das Gros der meisten Diven kaum fähig ist. „More than a Diva“ lautet so auch selbstbewußt der Titel ihrer Autobiographie, eine Dokumentation des Ausnahmerangs, der ihr zweifellos in der Gesangsgeschichte dieses Jahrhunderts zusteht.

Bereits Anfang der fünfziger Jahre fiel die Sängerin dadurch auf, daß sie das herrschende Ideal des Repertoires, das sie damals sang, ad absurdum führte. Renata Scotto begann ihre Karriere, die sie schnell an die Mailänder Scala führte, als hoher Koloratursopran. Der Soubrettenton des Kammerkätzchens, den man von der Violetta in Verdis „La Traviata“, von Bellinis „Nachtwandlerin“ oder Donizettis Adina aus dem „Liebestrank“ erwartete, ging ihr völlig ab.

Scotto war keine brave, wohlerzogene Sängerin. In ihrem Sopran lag aggressiver Sprengstoff, den sie einsetzte, um die auf den Naturlaut eines harmlosen Zwitschervögelchens reduzierten Frauengestalten in ihrer vollen Weiblichkeit zu befreien.

Sie war vom gleichen Pioniergeist erfüllt wie Maria Callas, die den Wohlstandsmuff der fünfziger Jahre gleichsam von der Bühne blies und die Belcanto-Oper in ihrer geschichtlichen Größe und ihrem Ausdrucksgehalt wiederbelebte. Und als Scotto 1957 beim schottischen Edinburgh Festival als Amina in Bellinis „Nachtwandlerin“ für ihre berühmte Kollegin einsprang, wurde sie nicht nur über Nacht zu einem internationalen Star, sondern fortan auch im gleichen Atemzug mit der Callas genannt und später sogar zu ihrer legitimen Nachfolgerin gekürt.

Mit der Madame Butterfly debütierte sie an der Londoner Covent Garden Opera: Sie wurde für zwei Jahrzehnte die herausragende Interpretin dieser Rolle. Scottos eindringliche singschauspielerische Umsetzung der Partie faszinierte vor allem dadurch, daß sie in der sentimentalen Liebesgeschichte zwischen der Asiatin und dem amerikanischen Offizier vor allem die menschliche Katastrophe kolonialer Herrschaft heraushörbar machte und nicht das westliche Klischee von der devoten Geisha bediente.

Die Aufnahme mit Altmeister John Barbirolli kann ohne Übertreibung als eine Jahrhunderteinspielung des Werks bezeichnet werden, die nur in Scottos zweiter, zwar stimmlich schärferer, aber noch differenzierterer Interpretation unter Lorin Maazels Leitung eine vergleichbare Konkurrenz hat.

Mit der Butterfly und Koloraturrollen wie Violetta, Lucia und Adina brillierte die Sängerin an allen großen Häusern der Welt. An der New Yorker Metropolitan Opera avancierte sie zum Publikumsliebling. Der damalige Met-Chef, Rudolf Bing, bot ihr allerdings keine neuen Rollen an, mit denen sie ihren künstlerischen Radius hätte erweitern können. „Es tut mir leid, Miss, aber Sie müssen warten, bis Sie an der Reihe sind“, war die ignorante Antwort des Managers. Sir Bing unterschätzte das enorme Potential der Künstlerin ebenso wie die internationalen Schallplattenkonzerne. Nach ihrer umjubelten Butterfly von 1966 – produziert von der EMI – schien das Thema Scotto für die Allgewaltigen der Schallplattenindustrie abgehakt.

Das änderte sich erst wieder Anfang der siebziger Jahre, als Rudolf Bing an der Met das Zepter abgab und der junge James Levine fortan die künstlerischen Geschicke der ersten Opernadresse in den USA zu bestimmen begann. Der Maestro holte die Scotto an die amerikanische Renommierbühne zurück. Von dort aus startete sie eine zweite Karriere, mit der sie endgültig aus dem Schatten der Callas trat. Ihre Stimme war dunkler und voller geworden, hatte zwar an Leichtigkeit verloren, dafür aber an Farbenreichtum gewonnen. Mit diesen veränderten stimmlichen Voraussetzungen wagte sie den Wechsel ins lyrisch-dramatische Opernfach.

Sie traute sich an anspruchsvolle Verdi- Partien wie Elisabetta („Don Carlos“), Desdemona („Otello“), Leonore („Il Trovatore“) oder an Lady Macbeth („Macbeth“). Jetzt sollte Renata Scotto das Versprechen, das sie mit der Butterfly als Idealinterpretin von Puccinis Musik bereits Jahre zuvor gegeben hatte, auch mit anderen Rollen einlösen. So stieg sie zur Assoluta auf, nahm Puccinis Frauenfiguren – wie der Mimi, Manon oder Suor Angelica – die angeschminkte Physiognomie tränenverquollener Larmoyanz und entfachte in ihnen wieder das Feuer verzweifelter Lebensgier. Mit schreiender Intensität fühlte sie sich in die Rolle des Opfers ein und sang gleichzeitig dagegen an. Scotto verhalf auch unbekannteren Werken zu neuem Ansehen, darunter Cileas „Adriana Lecouvreur“ und Zandonais' „Francesca da Rimini“.

Mit dem Fachwechsel stand die Sängerin schlagartig bei den Musikkonzernen wieder hoch im Kurs. Innerhalb eines Jahrzehnts seit Mitte der siebziger Jahre hat ihre Diskographie imponierende Ausmaße angenommen. Zu Scottos besten Aufnahmen zählen die Puccini-Opern unter Maazel : „Il Trittico“, „Butterfly“, „Le Villi“, eine als subtile Charakterstudie angelegte „La Traviata“ (von Riccardo Muti dirigiert) sowie die Einspielungen mit James Levine, dem Spiritus rector des Scotto-Booms: Unter seiner Leitung sang sie eine glutvolle Santuzza in Mascagnis Reißer „Cavalleria rusticana“; eine selbstbewußte Desdemona in „Otello“ – wobei ihre Interpretation nichts mit dem gewohnten unbedarften Rauschgoldengel gemein hatte; in Cileas „Adriana Lecouvreur“ zeichnete sie ein vollendetes Klangporträt der Tragödin – ein nuancenreiches Wunderwerk an Phrasierungs- und Kolorierungskunst.

Häufigster Gesangspartner bei Scottos Platten war Placido Domingo, der mit erotischem Breitwandsound den idealen männlichen Gegenpol zu ihren ausgefeilten Frauenstudien bildete. Unüberhörbar sind allerdings auch die Folgen von dramatischen Partien wie Lady Macbeth oder Gioconda, die zwar Scottos Bühnentemperament, aber kaum ihrer Stimme entsprachen. Mit irritierenden Registerwechseln und forcierten, extrem schrillen Höhen trifft sie stets ins Zentrum der Rolle, zugleich aber auch den Toleranznerv des größten Fans.

Selbst vor der gefürchtetsten Belcanto- Oper schreckte sie in der Met-Spielzeit 1981/82 nicht zurück und wurde für ihre Norma von der Presse wenig schmeichelhaft zu „Renata Screecho“ – Renata Schreihälsin – umgetauft. Die Plattenaufnahme hingegen zeigt, daß Scotto als Druidenpriesterin trotz mancher Kreischtöne das Floskelwerk der Bellinischen Belcantogrammatik mit dramatischem Aplomb belebt und eine echte Alternative zur Überfigur Callas bietet.

Nach fast einem halben Jahrhundert künstlerischer Laufbahn gehört Renata Scotto längst zu den Legenden der Oper. Im Spätherbst ihrer Karriere angelangt, hat sie ihr Aktionsfeld nochmals erweitert. In den vergangenen Jahren ist sie in Berlin, München und Hamburg als sublime Liedsängerin gefeiert worden, hat mit neuen, exponierten Partien wie der Marschallin in Strauss' „Rosenkavalier“ und den Frauenrollen in Schönbergs „Erwartung“ und Poulencs „La voix humaine“ ihr Bühnenrepertoire erfolgreich erweitert. Zudem erregte sie als Opernregisseurin Aufmerksamkeit.

Und ihre Botschaft? In Renata Scottos Kunst erlebt man Musik nicht als eindimensionale Präsentation schönen Scheins, sondern als Medium menschlicher Kommunikation. „Interpret kann sich nur der nennen, der mit dem Publikum kommuniziert“, so die Scotto. „Wer sich auf der Bühne als Star beweisen will, hat diese Fähigkeit nicht. Wir sind dazu da, dem Publikum etwas zu geben, etwas Besonderes, das es berührt oder mit dem es sich identifizieren kann. Das ist unsere Aufgabe, und wenn wir das erreichen, können Aufführungen entstehen, die man nie vergißt.“

Wenn auch die Blessuren, die sie ihrer Stimme mit oft allzu schweren Rollen geschlagen hat, unüberhörbar sind, so kann man in Renata Scottos Konzerten immer noch das Fluidum einer echten Diva erleben, die mehr als eine Diva ist.