: Skirummel auf fassanisch
Das Fassatal im Norden der Dolomiten lebt vom Brettersport. Ladinische Tradition weicht dem boomenden Tourismus und wird in einem Kulturinstitut konserviert ■ Von Mark Tanner
Mittagssonne. Dicht an dicht stecken Skier und Stöcke im plattgewalzten Weiß vor den Pistenrestaurants. Das unermüdliche Surren der Liftmotoren, unverkennbares Signum aller Schnee- und Spaßwelten, mischt sich mit Düften von Sonnencremes, Zigaretten und Schweinebraten. So ist es im Winter in den Bergen, auch auf dem 2423 Meter hohen Belvedere im Norden der italienischen Dolomiten.
Unsere Blicke schweifen über die Felskaskaden von Marmolada, Sellagruppe und Langkofel. Irgendwo hinter den Gipfeln soll sich noch immer Zwerg Laurin herumtreiben, im Abendlicht färben sie sich kitschig-schön zur „Enrosadira“. Tage wie diesen lieben die Winterurlauber. Gut 400.000 sind es im Fassatal pro Saison. Der Anteil Einheimischer in dem hochalpinen Freizeitpark ist gering. Meist treten sie als Liftwarte, Skilehrer oder Kellner in Erscheinung. Stehen manchmal in Grüppchen zusammen und sprechen ihr altes, bäuerliches Fassanisch. Jahrhunderte hindurch einsames, weil schwer zugängliches Bergland, ist Fassa heute der Prototyp einer florierenden Fremdenverkehrsregion. Dem benachbarten Grödnertal ähnlich, hat Fassa mit seinen zahlreichen Erholungsorten, Seilbahnen und Beherbergungsbetrieben einen Erschließungsgrad erreicht, der es dem Gast schwermacht, hier noch Reste der von lokalen Veranstaltern gepriesenen heilen Welt zu finden.
Die jährlich im Fremdenverkehr umgesetzten 600 Milliarden Lire sind der Motor der fassanischen Wirtschaft. Doch die stolz bezifferten Ergebnisse wecken nicht nur Zufriedenheit. Der „Ausverkauf der Heimat“, wie eine 1990 erschienene Broschüre forsch titelt, soll nach dem Willen der Ladiner „endlich gestoppt werden“. Die zugehörige Abbildung zeigt einen mitten in die schönste Fassa-Landschaft hineinbetonierten Appartementkomplex.
„Da sempre“, sagt Tullio Pederiva in tiefem Brustton. „Seit jeher“ lebt er im Tal. Der Mann mit dunkelblauer Arbeitsschürze, Gummistiefeln und Tirolerhut, der gerade aus der Stalltür tritt, ist Landwirt im Fassatal-Ort Soraga. Das „Patentino“, die Zuwanderern behördlich abverlangte Sprachprüfung, würde er mühelos überstehen: Fassanisch ist seine Muttersprache. Seine Familie ist an der Einrichtung des Ortsmuseums von Soraga beteiligt – das Ladinische Museum in Vigo soll nämlich dezentralisiert werden. Zwar ist auch Pederiva mit der Vermietung von Fremdenzimmern ins Tourismusgeschäft eingestiegen. Eine Aufgabe der Landwirtschaft aber wäre für ihn undenkbar. Jeden Frühsommer treibt er seine Kühe, die jetzt dicht an dicht in der dampfigen Wärme des Stalls stehen, hinauf ins Valle di San Pellegrino.
Etwas oberhalb von Pederivas Hof wohnen die Pellegrins. Die Familie hat einen Getränkevertrieb und eine kleine Pension. Signora Pellegrin erzählt von der Sprache, in der sie mit Mann und Kindern plaudert und der Katze nachschimpft, die aus dem Milchkrug getrunken hat. Früher, sagt sie, hätten alle Fassaner innerhalb des Tals geheiratet. Jetzt gibt es, vor allem des Berufes wegen, viele Zu- und Abwanderungen. Auch der Sohn der Familie ist mit „einer von da unten“ verheiratet. Das Enkelkind schwätzt ein Amalgam aus Italienisch und Fassanisch. Eltern und Großeltern passen sich an. Niemand, so Pellegrin, spricht mehr reines Fassanisch. „Sta morendo“ – es stirbt. Eine Wochenstunde in den Grundschulklassen ändert daran ihrer Meinung nach nichts. Bis auf eine Spur Bedauern in der Stimme wirkt die Frau gleichgültig. Schaltet wie zur Bekräftigung den Fernseher ein: eine italienischsprachige Talkshow schwappt in die gute Stube.
Die keinesfalls nur tourismusbedingte Erosion ihrer kulturellen und sprachlichen Eigenständigkeit haben die Fassaner mit der Einrichtung des Ladinischen Kulturinstituts „Majon di Fashegn“ beantwortet. Untergebracht in der alten Scheuer von Vigo di Fassa, dokumentiert man hier seit den 70er Jahren Sprache, Geschichte und Folklore des Tals. Zwischen Kunstfaserteppich und Neonleuchten ruhen regalweise Akten. Es gibt eine 3.500 Bände umfassende ladinische Bibliothek, die auch die Sprachvarianten der fünf Nachbartäler berücksichtigt.
Mit zunehmendem Selbstbewußtsein der Talbevölkerung wurden in den letzten Jahren ladinischsprachige Rundfunkprogramme und Schulstunden durchgesetzt, ebenso administrative Regelungen. Das Sprachzertifikat „Patentino“ – ursprünglich als sinnvoller linguistisch-bürokratischer Schutzzaun erdacht – regelt den Zugang zu den staatlich kontrollierten Sektoren des Arbeitsmarkts. Selbst ein Straßenfeger muß perfekt Fassanisch sprechen. Arbeitssuchende aus dem strukturschwachen Süditalien haben es da naturgemäß etwas schwerer. Kritik an dieser Regelung läßt Chiocchetti nicht gelten: „Fassanisch kann schließlich jeder lernen.“
Es schneit. Auf der Statale 48 herrscht Chaos wie jeden Samstag. Bettenwechsel. Schon seit heute morgen bewegt sich der skibeladene, metallene Lindwurm durch die Ortschaften. Die Bergstraße, 1909 als Teil der „Grossen Dolomitenstraße“ erbaut, ist die Lebensader des Tals. Verbindung zur A 22, der Brennerautobahn, und somit zu den Städten Norditaliens und Süddeutschlands. Die Autoschlange ruckelt, zuckelt gerade noch im Stop and go. Wird völlig kollaptisch, als sich die ersten Fahrzeuge auf der winterglatten Fahrbahn querstellen. Der Fahrer des hinter uns haltenden Autobusses öffnet die Tür. Einige Gäste steigen aus, machen ihrem Ärger Luft und setzen ihren Weg zu Fuß fort. Vor uns nutzt ein Autofahrer aus Modena die Zwangspause, um seine Skiausrüstung zu pflegen. Manövriert die langen, dünnen Langlaufskier aus seinem Kofferraum und beginnt sie liebevoll mit Toilettenpapier trockenzureiben. Für manchen ist das Warten auf der Autobahn schon Routine.
Vielleicht stecken ja auch die Skipofis Alberto Tomba und Fredrik Nyberg mit uns im Stau. Beide trainieren nämlich im Fassatal. Wir trösten uns mit dem Gedanken an den phantastischen Rundblick vom Belvedere und an die Loipen von Alochet. Die wollen wir heute noch erreichen.
Nicht weit von der Hauptstraße entfernt sitzt Andrea Weiss, Leiter des Fremdenverkehrsamtes ATP, in seinem Büro im „Palaghiaccio“, dem Eisstadion von Alba. Kultur und Sprache der Dolomitenladiner schätzt er als „sehr wichtig für das touristische Image des Tals“ ein und will sie verstärkt in sein Marketingkonzept einbinden. Eine Entfremdung durch den boomenden Tourismus fürchtet Weiss nicht: „Sicher, weniger Touristen und höhere Qualität wären besser. Aber für ein Zurück ist es zu spät. Wir haben im Tal 50.000 Gästebetten!“
Weitsichtige Perspektiven sind vonnöten: Das Co-Marketing mit den benachbarten Tälern soll erweitert, mehr übergreifende Wirtschaftsstrukturen wie der Skipaß „Superski Dolomiti“ und der Liftverbund um die Sella Ronda geschaffen werden.
Wir sind dem Verkehrschaos entkommen und steigen Richtung Pellegrinopaß. Ein paar Kilometer vor der Paßhöhe fahren wir rechts ran. Wenige niedrige Gebäude, ein Kassenhäuschen und bunte Banderolen markieren den Zugang zum „Centro Alochet“, dem auf 1.800 Höhenmetern schneesicher gelegenen Langlaufzentrum. Keine Liftmotoren – aber wenigstens Schweinebraten und Pasta. Lautlos gleitet, skatet, schwitzt man entlang der schier endlosen Spuren. Passiert verschneite Tannenwälder, gefrorene Bäche. Nach kurzem, anstrengendem Aufstieg erreichen wir Ciamp de Ors („Bärenfeld“). Nur zwei, drei Almhütten, dem Verfall preisgegebene kleine Schachteln aus unbehauenen Tannenstämmen, erinnern an frühere Zeiten. Unter den vom Herdfeuer geschwärzten Dachbalken hängt noch der Stallgeruch von vergangenen Sommern.
Unterkünfte: Vom 4-Sterne-Hotel bis hin zur Privatunterkunft, Halbpension ab 50 Mark.
Skipisten:145 km präparierte Abfahrten aller Schwierigkeitsgrade mit insgesamt 58 Liftanlagen. Skipaß für eine Woche ab 250 Mark.
Weitere Auskünfte: Tourismusverband APT Val di Fassa, I-38032 Anazei (TN), Tel. 0039-462-602466 (deutschsprachig). Staatliches Italienisches Fremdenverkehrsamt, Frankfurt a. M., Tel. (069) 237430
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen