: Keine Mitschuld am Tod des Kindes
■ Tiergartener Jugendstadträtin weist Vorwurf zurück, daß Sozialarbeiter fahrlässig gehandelt und Tod der zweijährigen Sandra mit verursacht haben. Das bereits früher mißhandelte Kind war erst seit kurzem w
Nach dem Tod der zweieinhalbjährigen Sandra muß sich das Jugendamt Tiergarten eines schweren Vorwurfs erwehren. Haben die zuständigen Sozialarbeiter fahrlässig gehandelt, indem sie das wegen früherer Mißhandlungen ein Jahr lang bei einer Pflegefamilie lebende Kind vor drei Wochen wieder seiner Mutter anvertrauten? Nach eingehender Prüfung der Akten hat sich die Tiergartener Jugendstadträtin Elisabeth Rodé (Bündnis 90/Die Grünen) gestern schützend vor ihre Mitarbeiter gestellt. Sie sei davon überzeugt, so Rodé, daß die Rückführung von Sandra zu ihrer Mutter „sehr gründlich vorbereitet und begleitet“ worden sei. Es habe keinerlei Anzeichen für eine neuerliche Mißhandlung des Kindes gegeben. „Die zuständige Sozialarbeiterin hat geradezu vorbildlich gehandelt“, sagte Rodé. Und: „Das würde ich nicht immer sagen.“
Sandra war Montag vergangener Woche leblos in der Wohnung der Mutter aufgefunden worden. Am Körper des Kindes wurden zahlreiche blaue Flecken und Prellungen festgestellt. Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Der 39jährige Lebensgefährte der 18jährigen sitzt wegen Verdachts des Totschlags in U-Haft.
Nach Angaben von Rodé hatte Sandra erst seit dem 31. Januar wieder zu Hause gewohnt. Davor lebte das früher offenbar mehrfach geschlagene Kind ein Jahr bei einer Pflegefamilie. Die junge Mutter, die wiederholt Beziehungen zu gewalttätigen Männer gehabt habe, habe „völlig überfordert“ gewirkt. Nach Monaten absoluter Trennung seien die Kontakte zwischen Mutter und Kind vom Jugendamt wieder angebahnt worden. Zeitgleich sei die Mutter intensiv betreut und beraten worden. Als sich gezeigt habe, daß Sandra auch zu dem neuen, „sehr liebevoll“ wirkenden Lebensgefährten der Frau „ein sehr gutes Verhältnis entwickelt“ habe, seien die Kontakte erweitert worden. Nach tageweisen Aufenthalten bei der Mutter kehrte Sandra schließlich ganz zu dieser zurück. Danach wurde die Familie weiter von der zuständigen Sozialarbeiterin betreut.
1996 wurden in Berlin 4.114 Kinder und Jugendliche aus ihren Familien herausgenommen. Bei 187 Kindern war „Vernachlässigung“ der Grund. Bei 610 waren die Eltern „überfordert“, bei 92 bestand der Verdacht von körperlichen Mißhandlungen. Die Zahlen sind der Bundesstatistik für Jugendhilfe entnommen, in der insgesamt elf Merkmale aufgelistet sind, die zur Herausnahme von Kindern aus den Familien führen können. Rund 3.000 Berliner Kinder und Jugendliche leben in Pflegefamilien, 25 Prozent davon wachsen in der Pflegestelle auf.
Die Entscheidung, Sandra wieder der Mutter anzuvertrauen, war von der Maxime getragen, zum Wohl des Kindes alles daranzusetzen, um Trennungen zu vermeiden. Das ist der Leitgedanke „des modernen Kinderschutzes“, der nach Angaben des Referenten für Erziehungshilfen bei der Senatsjugendverwaltung, Peter Widemann, das Handeln der Jugendämter bestimmen soll. Es gehe nicht um Täterverfolgung, sondern um die Herstellung einer Zusammenarbeit mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen Kind und Eltern zu restabilisieren. „Aber man muß die Familien sehr genau beobachten und betreuen, am besten von mehreren Sozialarbeitern. Denn jeder sieht etwas anderes.“ Plutonia Plarre
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