■ In Indien votierten die WählerInnen für eine pragmatische Politik: Ideologen wurden abgekanzelt
„Eine Ohrfeige für die Politiker“ nannte die Times of India das Wahlresultat vom Dienstag. Es fällt schwer, dieses Urteil nachzuvollziehen. Denn das Wahlvolk hat seine Sympathien so gleichmäßig über das Parteienspektrum verteilt, daß Indien wiederum regierungsunfähig scheint. Keiner der großen Widersacher hat die nötige Sitzzahl, um eine Regierung zu bilden. Eine Koalition mit unsicheren Bettgenossen scheint der einzige Ausweg zu sein. Nach einem ähnlichen Experiment, das nicht mehr als 22 Monate überlebt hat, ist dies keine gute Aussicht für ein Land, dessen soziale und wirtschaftliche Probleme eine politische Führung dringend nötig machen.
Betrachtet man nicht das Gesamtresultat, sondern die Ergebnisse in den einzelnen Bundesstaaten, ist das Urteil von Times of India gerechtfertigt. Mit einigen wenigen Ausnahmen hat nämlich durchweg jene Partei schlecht abgeschnitten, die in der jweiligen Provinz am Ruder ist. In den südlichen Staaten Tamil Nadu und Karnataka erlitten die zwei Parteien der United Front Coalition eine schwere Niederlage. Hier profitiert die BJP-Allianz vom Ärger der Wähler. In Maharashtra dagegen steht die regierende BJP im Regen, und die Kongreßpartei ist der lachende Erbe. Die Wahlergebnisse zeigen, daß die Wähler die seltene Gelegenheit einer demokratischen Meinungsäußerung nutzten, um den Politikern zu sagen, daß es ihnen mehr um gute Regierungsführung und weniger um gute Ideologie geht. Die großen Parteien wurden also abwechselnd belohnt und bestraft. Das paradoxe Resultat: Keine Partei ist stark genug, um dem Land eine Regierungsführung über die volle Legislaturperiode zu garantieren.
Hat der indische Wähler – in seiner Mehrheit eine mittellose, gesundheitlich geschädigte Analphabetin – gezeigt, daß ihm politisches Gespür fehlt und daß er unfähig ist, rationale Entscheide zu fällen? Das Gegenteil ist der Fall: In der gleichmäßigen Verurteilung aller Parteien haben die Wähler und Wählerinnen diese daran erinnert, daß es ihnen nicht um religiöse Ideologien und deren großspurige Gegendarstellungen geht, wie sie von Politikern in Hunderten von Wahlreden beschworen wurden. Es geht ihnen zunächst nur darum, vom Staat das Selbstverständliche zu verlangen – nämlich Trinkwasser, eine Schule, ein Spital im Umkreis eines Fußmarsches und all dies, ohne daß man dafür Beamte schmieren muß. Bis die Parteien dies gemerkt haben, werden sie wohl oder übel immer wieder an die Urne gerufen werden. Bernhard Imhasly
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