: Jurassic Park im Reinhardswald
Das unstillbare Heimweh nach der freien Wildbahn hat einen gigantischen Markt geschaffen. Amerikas Animierwelten übertrumpfen einander. Doch der älteste Themenpark der Welt liegt in hessischen Landen ■ Von Stefan Schomann
Ende April eröffnet Disney in Florida mit seinem Animal Kingdom „den Themenpark des 21. Jahrhunderts“. Er ist insofern zukunftsweisend, als er weit zurückführt. Er formt „eine riesige Naturbühne, und das Stück, das dort gespielt wird, heißt Leben.“ Über eine archetypische Savanne ziehen Elefanten und Antilopenherden. Nilpferde duschen unterm Wasserfall, ein riesiger „Lebensbaum“ symbolisiert die Evolution und informiert über Disneys Einsatz für den Artenschutz. Daneben lauern Simba, Bambi und Balu.
Im nahen Tampa präsentieren die Busch Gardens seit fünf Jahren eine Art Daktari-Land mit Serengetisteppe und Gorillas im Sprühnebel. „Welcome to our home“, lautet sein Slogan. Unsere Heimat – versöhnt sind Mensch und Tier, Technik und Natur. Diese Parks fingieren Urlandschaften, stiften die langentbehrte Lebensgemeinschaft von umherstreifenden Homo-sapiens-Gruppen und friedlich äsendem Großwild.
Die Menschheit ist genug gereist, sie will nur mehr nach Hause. Fürst Spielberg, Graf Kostner und das Disneyreich beliefern sie mit Utopien von Wildnis und von Abenteuer, die archaisch wirken und apokalyptisch zugleich. Urzeit ist Endzeit. Das unstillbare Heimweh nach der freien Wildbahn hat einen gigantischen Markt geschaffen, eine Naturindustrie.
Klein-Eden ist der Kassenschlager. Allein rund um Orlando gibt es siebzig solcher Themenparks, die jährlich über 25 Millionen Besucher verdauen. Sorglose Scheinwelten, begehbare Fata Morganen. Die Alte Welt kommt aus dem Staunen nicht heraus. Die Marketing-Strategen reiben sich die Hände. Glückswelten für Touristen! Dort liegt die Zukunft, sagen sie. Die preisen sie ratlosen Ruhrgebietsstädten ebenso wie darbenden brandenburgischen Kommunen an, wobei sie stets auf die amerikanischen Vorbilder verweisen.
Papperlapapp. Wie gewöhnlich haben die Amis nichts Neues erfunden, nur Altes virtuos vergessen. Sie holen gerade das Barockzeitalter nach. Damals überboten sich Europas Fürstenhöfe im Anlegen von Zaubergärten und Märchenparks mit Wasserspielen. Der wohl älteste noch aktive Themenpark der Welt besteht seit 1571 im nordhessischen Reinhardswald. Am Rand des Weserberglands, vierzig Kilometer nördlich von Kassel. Landgraf Wilhelm IV. ließ einen „Thiergarten“ anlegen, der Europas Fauna fürsorglich versammelte. 500 Morgen groß – drei Animal Kingdoms. Zu Füßen der Sababurg wurden Hirsche, Gemsen, Bären ausgesetzt, Wildkatzen und Zobel, selbst Elche und Rentiere „nebst einem wilden Lappen- Weib“. Von Schweden kommend, waren sie in einer Staatsaktion über die Ost- und Nordsee verschifft und weseraufwärts gezogen worden. Als Mittelsmann wirkte kein geringerer als der dänische Astronom Tycho Brahe.
Wilhelm war ein Mann der Wissenschaften, sein Urwildpark ein weitsichtiges Unternehmen in einer Zeit, als Europas Naturräume schon merklich enger wurden. Kilometerlange Alleen teilen die Gehege. Wölfe schnüren am Zaun entlang, Wisente waten im Sumpf. Wildpferde schnauben, Mufflons muffeln. Die Gibraltaraffen, die kreischend über die Felsen fegen, dienten schon Wilhelm Busch zum Vorbild für den Affen Fips. „Bitte necken Sie die Tiere nicht“, ermahnt der Zooführer.
Die reichen Jagdgründe im Mosaik aus Auen, Wiesen und Wald bieten zumindest ein Nachbild der einstigen Urlandschaft. Der angrenzende Reinhardswald, einer der größten in Mitteleuropa, birgt eine Zauberwelt. Mit bemoosten Baumgespenstern und achthundert Jahre alten freistehenden Eichen. Jeder dieser mächtigen Lebensbäume hätte mehr zu erzählen als ganz Phantasialand.
Auf einem Hügel über dem Park sitzt die kleine, mollige Sababurg, halb Ruine, halb Hotel. Ein abgeschiedenes Plätzchen – bis man sich des Disney-Effekts entsann und es als Dornröschenschloß vermarktete, zugleich als eine Station entlang der Deutschen Märchenstraße. Als Volkskundler im 19. Jahrhundert nach den Schauplätzen der Grimmschen Märchen fahndeten, wurden sie hier fündig: Bevor der Landgraf eine Mauer um sein Paradies zog, wuchs eine große Hecke drumherum. Nun kommen die Gäste bis von Orlando und von Yokohama. Dornröschen wird nach Strich und Faden inszeniert, mit Kutschfahrten, Feentrunk, saumseligem Küchenjungen und garstiger Spindel. Flitterwöchner wählen das Turmzimmer mit dem „Himmelbett hinter dicken Mauern“. Der Blick geht weit übers Land, der Wald rauscht und wogt, und aus dem Thiergarten dringen Urlaute herauf.
Unter all seinen Kreaturen verkörpert eine das Archaische schlechthin. Kreuzworträtsler kennen es als das Tier mit dem kürzesten Namen: der Ur – der Auerochs. Zu Zeiten des Landgrafen zogen sie noch durch den Park, heute wieder. Dazwischen waren sie ausgestorben. Schon Wilhelm IV. war sich wohl bewußt, daß die Art vor der Ausrottung stand. Schuld hatten die großflächigen Rodungen, die Überjagung, die Konkurrenz durch Weidevieh. 1627 wurde der letzte wilde Stier in Polen zur Strecke gebracht.
Wieder waren es dann zwei Brüder, die Altfränkisches nachbildeten: Lutz und Heinz Heck, Zoodirektoren in Berlin und München, begannen Ende der zwanziger Jahre mit der „Rückzüchtung“. Sie kreuzten urwüchsige Rinderrassen aus Schottland, Süd- und Osteuropa, um die Wildform herauszumendeln. Die Zeit sollte umgekehrt, die Domestikation rückwärts buchstabiert werden. Von Wappen und Münzen war der Phänotyp halbwegs überliefert. Eine der letzten Darstellungen stammt aus der Sababurg.
Seit der Barockzeit hat nachgeahmte Urnatur immer wieder Konjunktur. Die vorletzte Welle schlug in den dreißiger Jahren an. Bestes Beispiel ist das „eiszeitliche Wildgehege“ im Neandertal bei Düsseldorf. Diesen Themenpark ließ Reichsjägermeister Göring anlegen, direkt am Urgeschichtlichen Museum, das die Welt der Neandertaler zeigte. Elche, Rentiere, Wisente, Wildpferde durchstreiften eine inszenierte Landschaft. Auch Auerochsen grasten.
Die Silbe Ur ist eine deutsche Eigentümlichkeit. Wie ein Pfeil weist sie auf Anfänge, Gründe, Stammformen hin. Ob in Urherber, Ursache oder Urgroßmutter, selbst im Urlaub, der großen Regression. Den Brüdern Heck wurde später ihre Nähe zum Regime und ihr Enthusiasmus für Erbgang und Rasse angekreidet. Doch sie folgten eher dem Zeitgeist als den Ideologen. Alles Ursprüngliche war eine Obsession der Epoche. Als Gegenbewegung zur Entwurzelung durch die Moderne forschte man nach Ahnen, Quellen, Mutterschößen. Wie sehr muß erst die nur mehr an Luftwurzeln hängende Postmoderne nach Nährstoff aus der Tiefe dürsten. Neoarchaisches feiert fröhliche Urständ, besonders im Kino, in der Werbung und eben im Tourismus. Freizeit ist Vorzeit.
Trendforscher aufgemerkt: Als nächste Stufe wird nicht mehr nur die Landschaft aus der Retorte kommen, sondern auch ihre Bewohner. Vom Reichsmarschall und seinen Spießgesellen haben die Amerikaner schließlich neben der Raketen- auch die Biotechnologie transferiert. Gegen die Genetikingenieure von heute waren die Hecks nur thumbe Viehzüchter. Ein paar Jahre wird in den Laboratorien noch geübt, wird extrahiert, sequenziert, abgekupfert und geklont – dann zeugen wir unsere Mythen selber. Während im Animal Kingdom Mammuts und Säbelzahntiger zur Attraktion werden, setzen wir entlang der Märchenstraße Einhörner im Reinhardswald aus und ergötzen uns an der Lindwurmfamilie im Streichelzoo. Und vor einem wildromantischen Freigehege wird ein Schild zu lesen sein: „Bitte necken Sie die Neandertaler nicht“.
Info: Fremdenverkehrsamt des Landkreises Kassel, Casinoweg 22, 34369 Hofgeismar. Tel. (05671) 995255, Fax 995250.
Der Urwildpark an der Sababurg hat ganzjährig täglich geöffnet.
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