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Hohepriester der Vivisektion

René Magrittes 100. Geburtstag wird in Brüssel mit einer großen Retrospektive gefeiert. Die Stadt schmückt sich und sieht selbst schon surrealistisch aus – ganz im Sinne Magrittes, der den Beweis für die Rätselhaftigkeit seiner Bilder der Wirklichkeit überlassen wollte  ■ Von Harald Fricke

Der König kam zuerst als Gast. Danach durften die Journalisten sich die Retrospektive zum hundertsten Geburtstag von René Magritte anschauen. Soviel Ordnung muß sein in Brüssel, immerhin findet die Ausstellung im „Königlichen Museum der Schönen Künste von Belgien“ statt. Und auch sonst macht sich der höfliche Knicks vor dem Monarchen stets bemerkbar: Überall in der Stadt sind Banner von Magrittes „Schloß in den Pyrenäen“ mit dem Motiv einer mittelalterlichen Burg gehängt, die auf einem Felsen über dem Meer schwebt. Zwar wurde das Bild 1959 als Auftragsarbeit für den New Yorker Anwalt Henry Torczyner angefertigt, der es später dem Israel Museum in Jerusalem geschenkt hat. Aber in Brüssel scheint es sich hoch oben an den Fahnenmasten mit dem matten Grau des Himmels ebenso zu ergänzen wie mit dem traditionellen Sandstein der Kathedrale oder den verwaisten EU-Gebäuden rund um den Zentralbahnhof.

Das Jubiläum des am 21. November 1898 geborenen Magritte steht in einer Reihe mit Ausstellungen über Paul Delvaux' detektivische Frauenmord-Stories und James Ensor, dessen maskierte Gestalten für die Surrealisten ein Vorbild waren. Doch nicht nur belgische Kunst, der Alltag selbst sieht hier ziemlich surrealistisch aus. Alles ist einen Tick zu perfekt dekoriert, jeder noch so bescheidene Haushaltsartikel wird wie ein Fetisch von unschätzbarem Wert feilgeboten. Zwischen Läden mit glitzernden Pralinenverpackungen und üppigen Präsentkörben, die nur von Auslagen mit skurrilen Spitzenklöppelarbeiten unterbrochen werden, verliert sich das Auge in unendlich vielen bunten Formen. Sogar im Euroshop findet man farblich abgestimmte Devotionalien, das Marineblau mit den zwölf gelben Sternen reicht vom Badetuch bis zur Schneekugel und zum Kugelschreiberetui. In diesem Einkaufsparadies fügen sich die Dinge zueinander, als würde die Warenwelt Polonaise tanzen – warum sollte Kunst da eine gesonderte Position einnehmen?

Schon im Prospekt zur Ausstellung sind die Übergänge zwischen Hochkultur und Pop-Appeal fließend: Brüssel ist nicht nur die Stadt der Künstler, heißt es dort, sondern auch die „Stadt der Comichelden und der Musik aus aller Welt“. Wer aber würde in Berlin etwa Max Liebermann oder Adolph Menzel mit Zille sein Milljöh und den Gassenhauern aus dem Wedding zusammenbringen? Insofern klingt der Satz des belgischen Surrealisten Louis Scutenaire, Magritte sei ein guter Maler gewesen, „weil er gar kein Maler war“, nicht bloß wie eine Koketterie. Es ist vermutlich das einzige Urteil, das einer Malerei gerecht wird, in deren Kontext Produktion und Massenwirkung nicht voneinander zu trennen sind. Verblüfft findet man sich vor einem Postkartenständer mit über hundert Magritte-Motiven wieder und staunt über die souveräne Vielfältigkeit, mit der sie sich einem von Kindesbeinen an eingeprägt haben.

Magritte wollte, daß seine Bilder sich in Sekundenschnelle dem Betrachter erschließen und danach mit allen anderen Eindrücken im Gedächtnis verbunden bleiben. Statt lange im Atelier über die perfekte Umsetzung von Ideen zu grübeln, zog er es vor, den Beweis für die Rätselhaftigkeit seiner Gemälde der Realität zu überlassen. Bilder sollten nichts über Emotionen oder Zukunftsvisionen aussagen, sondern allein aus sich selbst heraus als Zeichen und zugleich Teil der Wirklichkeit Bestand haben. Statt wie Dali brennende Giraffen als schillerndes Abbild seines Gefühlslebens zu benutzen, blieb Magritte streng an den Dingen des Alltags, die erst in der Kombination mysteriös wurden. Ein unsauberer Strich an der Blüte einer Rose konnte zum Dolch werden, der wiederum ihren Stengel ersetzen mußte. Nur mit dieser unbarmherzigen Logik, so Magritte, könne man noch „Blumen des Bösen“ schaffen, wie er sie an Baudelaire schätzte. Es ist kein Wunder, daß er die psychoanalytischen Interpretationen der Pariser Surrealisten ablehnte, schließlich waren für ihn „Träume die Aufgabe von Ärzten (so wie Penicillin)“. Natürlich wurde Magritte daraufhin von André Breton im Schnellverfahren exkommuniziert.

Andererseits lehnte Magritte selbst rigoros ab, was sich seiner Denkweise in den Weg stellte. Abstraktion galt ihm als Irrtum, weil sie nach Mondrian immer nur die gleichen Bildprobleme reproduzierte, und in der Pop-art sah er lediglich einen Neuaufguß von Dada – diesmal eben nicht in Collagenform, sondern auf der Leinwand. Daß sich Rauschenberg und Oldenburg für seine Arbeit begeisterten, schmeichelte dem inzwischen älteren Herrn im schwarzen Gehrock mit dem Bowler zwar, doch er verbuchte es unter dem jugendlichen Eifer der Amerikaner. Auch als Michel Foucault in den sechziger Jahren an seinen Bildern die Divergenz von Wort und Bild, Zeichen und Bezeichnetem ergründete, blieb Magritte gegenüber dem 30 Jahre jüngeren Philosophen freundlich, doch reserviert. Schließlich hatte er selbst mit seinem Vortrag „Les Mots et les images“ schon 1937 nachzuweisen versucht, daß Wörter genauso wie Gemälde funktionieren, weil beide als Zeichen für Dinge irgendwann einmal festgelegt worden sind. Gegen solche Konventionen müsse sich die Kunst aber zur Wehr setzen. Aus diesem Grund war acht Jahre zuvor sein Bild einer Pfeife mit der Unterschrift „Dies ist keine Pfeife“ entstanden. Marcel Broodthaers kunstbetriebskritische Variation des Themas – 1967 schrieb er „Dies ist kein Magritte“ unter ein eigenes Gemälde – hat er dann nicht mehr miterlebt.

Für die Retrospektive ist nun Magrittes Spielerei mit den Zeichen nur ein Kapitel in der gewaltigen Ansammlung von mehr als 300 Bildern. In gut einem Dutzend farbig dezent abgetrennter Säle wird sein Werk chronologisch durchstöbert und nach zentralen Motiven angeordnet. Erst kommen die Experimente mit der Willkür in Sachen Bezeichnung, dann allerhand Körperfragmente, und zuletzt der süße Posterkitsch des Alters mit steingewordenen Märchenfiguren, den Tag/Nacht-Idyllen oder Magrittes fliegenden Regenschirmmännern – ein Rentner der Vierjahreszeiten. Nebenbei erfährt man jedoch auch, daß er für die Arbeiterbewegung Kampfplakate fertigte, im Krieg an der belgischen Propaganda gegen Hitler beteiligt war und 1945 kurzfristig in die Kommunistische Partei eintrat. Der Bilderparcours führt indessen durch hervorragend arrangierte Zeichenkabinette mit erotischen Gemeinheiten hin zu Illustrationen für Lautréamonts „Gesänge des Maldoror“ und endet bei Vitrinen voll surrealistischem Nippes. Unter einer Käseglocke liegt ein Bild aus dem Jahr 1964 mit einem Stück Käse drauf und der Warnung: „Dies ist ein Stück Käse“. Darüber also lacht der Belgier.

Gleich am Eingang hängt jedoch ein raffinierter Gegenentwurf zum Pygmalion-Mythos: 1928 porträtierte sich Magritte selbst beim „Versuch des Unmöglichen“. Das Bild zeigt den Maler, der aus dem Nichts eine Frau mit dem Pinsel erschafft. Das Modell ist Georgette Magritte, die er auf der Schule kennenlernte und mit der er 43 Jahre innigst verheiratet war. Man wird ihr auf fast jedem Akt wiederbegegnen – allen Regeln von der Fragwürdigkeit der Zeichen zum Trotz war sie die wichtigste Muse in seinem Leben.

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Zunächst beginnt die Malerlegende aber bei ungestümen Kopien des russischen Futurismus. Erst als er auf die metaphysischen Szenarien von Giorgio de Chirico trifft, ändert sich Magrittes Stil. Sämtliche Bilder halten nun eigenartig theatralische Settings fest, in denen die alltäglichen Begebenheiten eingefroren sind. Was Magritte sich als Darstellung einer Welt des Mysteriums konzipiert hatte, entwickelt dabei sehr viel Ähnlichkeit mit Filmstills, in denen der Zufall absurde Bewegungsmomente verewigt: Wie aufgespießte Käfer sind Adler an den Horizont gepinnt, schweben Reiter auf ihren Pferden durch verwinkelte Landschaften außerhalb der Zeit. Vielleicht erklärt sich aus dieser Neigung zur Vivisektion seine Freundschaft mit Ernst Jünger, dem er im Juni 1956 Melancholisches schreibt: „Hier in Brüssel fällt man all die alten Bäume an den Boulevards [...] Ich denke, der ,Fortschritt‘ hat Wilflingen noch nicht ,verbessert‘, sie Glücklicher!“

Parallel zu den Paranoiagestalten des Surrealismus, doch sehr viel konkreter jedenfalls klaffen die Körper auf Magrittes Bildern auseinander, wird die Haut vom Fleisch abgelöst und als gespenstisches Laken vorgeführt, mit dem die Phantasie nach Belieben verfahren kann. Hinter dem Gesicht auf „Der geheime Doppelgänger“ (1927) verbergen sich Schellenringe und Höhlen, für Magrittes überarbeitete Fassung der „Madame Recamier“ nach dem Original von David wird die Frau gleich ganz durch einen Sarg ersetzt.

Diese Art, Welten und Bilder auseinanderzunehmen und am Ende mit Gewinn wieder zusammenzusetzen, ist ihm offensichtlich gelungen. Schon das Werkverzeichnis erinnert mehr an das Auftragsbuch einer Manufaktur: Bis zu seinem Tod 1967 malte René Magritte über 1.000 oft großformatige Ölbilder, daneben gibt es beinahe ebenso viele Zeichnungen und Tuschen. Weil er von seiner Kunst erst ab den fünfziger Jahre leben konnte, nahm der aus einer Schneiderfamilie stammende Magritte immer wieder Zeichenjobs für Modehäuser, Zigarettenfirmen oder „Persan Bitter“ an. Später machte er sich aus seiner Vergangenheit als Werbegraphiker einen Jux. Sein vielleicht bekanntestes Bild „Der Himmelsvogel“ von 1966 mit den Umrißlinien einer Taube, in denen sich der Himmel spiegelt, entstand als Logo für eine Kampagne der belgischen Sabena Airlines. Deutlich ist am unteren Rand das Rollfeld zu erkennen – in der Tat, nicht gerade der Traum von den blauen Blumen des Surrealismus.

In den USA hatte er mit dieser Mischung aus Pragmatismus und Ironie den meisten Erfolg. Das Sammlerehepaar de Menil kaufte 1950 ein Bild von ihm, um es dem New Yorker Museum of Modern Art anzubieten. Mit diesem Verkauf wurde er in Amerika als erster europäischer Nachkriegskünstler berühmt: Ein Viertel der Leihgaben zur Retrospektive kommt noch heute aus amerikanischen Sammlungen.

Bis 28. Juni, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel. Der Katalog ist im Belser Verlag erschienen und kostet 128 Mark.

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