: Die große Liebe macht durstig
■ Ein Sonderzug zum Abstiegsspiel in Bochum. Rund 700 HSV-Fans fahren mit in den Ruhrpott. Matthias Wohlrab begleitete die reiselustigen Anhänger
Andreas sieht so aus, wie man sich einen HSV-Fan vorstellt: Spielertrikot, darüber der Vereins-Schal und auf dem Kopf eine mit HSV-Anstecknadeln übersäte Mütze. Der Bacardi fließt aus einem Plastikbecher, den die HSV-Raute ziert. „Ich bin seit 1979 HSV-Fan und fahre auswärts fast immer mit“, erklärt der 31jährige Lagerarbeiter stolz. Sein Bruder Frank (23) ist ebenfalls dabei: „Ich will den Alltag vergessen.“
Gemeinsam mit 700 anderen HSV-Anhängern sind sie am Freitag nachmittag unter dem Motto des Fahrt-Sponsors – „Alles wird gut“– auf dem Weg zum Abstiegsduell in Bochum. Schon in Harburg läßt sich leicht erkennen, daß der Sonderzug keine alltäglichen Fahrgäste beherbergt. Auf den Gängen mischen sich leere Bierdosen und Zigarettenkippen. Durch den Zug dröhnt ein vielstimmiges: „Auf geht's Hamburg, schießt ein Tor!“
„Die Fahrten laufen problemlos ab, Schäden gibt es fast nie“, beschwichtigt einer der Fahrt-Organisatoren vom „Supporters Club“, der mit 4400 Mitgliedern größten HSV-Fan-Vereinigung. Früher ging es nicht so glimpflich ab. 1977 fuhr ein HSV-Sonderzug brennend wieder in Hamburg ein. Danach war der Ofen aus. Erst 1993 gelang es den Supporters, wieder Züge zu Auswärtsfahrten durchzusetzen: fünfmal pro Saison, nur zu den wichtigsten Spielen.
Andreas fährt eigentlich lieber mit dem Bus: „Da ist alles persönlicher, man kennt die Leute.“Aber egal: „Man kann auch im Zug richtig die Sau rauslassen.“Bruder Frank sieht es ähnlich: „Ich bekomme schon Haarausfall, weil ich immer nur an die Arbeit denke. Hier kann ich mich amüsieren.“
Deshalb zieht es den Qualitätsprüfer in den Tanzwagen, einen Waggon, der als rollende Disco dient. Hier gibt es Dosenbier für zwei Mark, und Wolfgang Petrys „Das ist Wahnsinn“geht im „Wer wird Deutscher Meister? Ha-Ha-Ha-HSV“-Gesang unter.
Am Tresen steht Bernd und kämpft mit seinem Bier und der Erdanziehung. „Ich bin seit 1975 Hooligan und habe eine HSV-Tätowierung“, freut sich der 39jährige und hofft auf Ärger mit Bochumer Fans. Die Zahl der Störenfriede ist laut Expertenmeinung aber gering. „Von den 700 mitgereisten Leuten sind etwa 20 gewaltbereit“, schätzt ein Bundesgrenzschützer, verantwortlich für die Sicherheit im Zug. Ein Bochumer Ordnungshüter bescheinigt den Hamburger Fans in Sachen Aggressivität „nicht einmal Bundesligadurchschnitt“.
Die Bilanz auf dem Weg vom Bahnhof zum Stadion: Die verwüsteten Regale eines Zeitschriftenladens, deutsch-nationales Gebrüll der Unverbesserlichen und verschreckte Passanten – Bundesligaalltag. Eine Handvoll HSVer erlebt den Anpfiff der Partie jedoch nicht. Das Abbrennen von Feuerwerkskörpern ist auch in Bochum untersagt, Polizeigewahrsam die Folge.
Die restlichen rund 4000 HSV-Anhänger zeigen sich trotz des 0:0 von ihrer besten Seite. Noch 45 Minuten nach Abpfiff feiern sie ihre Spieler mit Endlosgesängen – im Gästeblock des sonst völlig leeren Ruhrstadions. „Ist das nicht geil“, brüllt Andreas und breitet die Arme aus, „darum fahre ich immer mit.“
Mittendrin sitzen Elfriede und Hans-Jürgen. Das Ehepaar, beide 60 Jahre alt, gehört nicht zum harten Kern der Hamburger Fan-Szene, amüsiert sich aber trotzdem. „Wir sind auch mit dem Sonderzug gekommen, weil wir bei der Verlosung gewonnen haben“, erklärt Hans-Jürgen. Mit dem Slogan „Wir haben zwar nicht die Kraft der zwei Herzen, aber unsere Herzen schlagen für den HSV“überzeugten sie die Juroren und gewannen zwei der fünfzig Freifahrten. „Die Fans sind laut, aber sehr nett“, urteilt Elfriede, „wir würden wieder mitfahren.“
Die Rücktour wird für die beiden erträglicher. Der größte Teil der Fahrgäste mußte längst dem Alkoholkonsum Tribut zollen. Einige Berauschte liegen auf den Gängen. Andreas ist noch fit. Im Tanzwagen genehmigt er sich, kurz vor Harburg und weit nach Mitternacht, das letzte Bier. Er wird auch bei der nächsten Fahrt dabei sein: „Meine Liebe zum HSV ist so groß, daß ich sowieso nicht wegbleiben könnte.“
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