: Zwischen Christus und Castor
Noch zwei Wochen bis zum Tag X in Ahaus. Im Namen der Schöpfung lehnen sich jetzt auch die Münsterländer gegen die Atomenergie auf. Ein später Widerstand ■ Aus Ahaus Andrea Böhm
Die Augen sind feucht und glotzen melancholisch. Regen tropft aus dem Zottelbart, während er Gras und Zweige mampft. Eine beeindruckende Wendekarriere hat er hinter sich. Die erste Lebenshälfte als Safariobjekt in Erich Honeckers realsozialistischem Jagdrevier verbracht – jetzt liegt er als Symbol der Naturverbundenheit seiner neuen Herren aus der Atomindustrie auf einer Wiese im Münsterland. Vielleicht registriert sein riesiger Schädel eine gewisse Hektik. Mehr Menschen, mehr Motorengeräusche, mehr Blitz- und Blaulicht als sonst. Aber der Bison mampft und glotzt weiter. Ein Rindviech eben, das keine Ahnung hat, daß es mit der Ruhe endgültig vorbei ist.
Der Anblick ist gewöhnungsbedürftig: Tiere, in deren Nähe das Auge unweigerlich nach Indianerzelten sucht, lagern vor einer riesigen Halle aus Klinkersteinen – dreifach eingezäunt mit Gitter und Stacheldraht, Videokameras und Warnschildern. Mittendrin spazieren ein paar Ponys herum. „Falsch“, sagt der Herr mit dem grauen Ziegenbart und dem gelichteten Lockenkopf. „Das sind Przewalskipferde – Urwildpferde. Die neigen zur Inzucht. Deswegen kann man immer nur einen Hengst und ein paar Stuten halten.“ Das inzestuöse Fortpflanzungsverhalten von Urwildpferden gehört eigentlich nicht zu Michael Zieglers Fachgebiet, obwohl der Mann in einem Khakihemd anstelle von Anzug und Krawatte glatt als Kollege von Konrad Lorenz durchgehen würde. Ziegler ist Pressesprecher der „Brennelement Zwischenlager Ahaus GmbH“ (BZA) und erklärt als solcher ein paar tausend Besuchern im Jahr die Vorzüge der Atomenergie im allgemeinen und die Funktionsweise des Ahauser Zwischenlagers im besonderen. Es kommen Kirchengruppen, Kegelclubs, Schulklassen, Seniorenvereine, und heute war Jürgen Möllemann da. Die drei Bisons – Unterart Flachlandwisent – und die Urwildpferde dienen dabei nicht nur der Unterhaltung des Publikums. Sie sollen vor allem verhindern, daß AtomkraftgegnerInnen vor den Toren der BZA ein Hüttendorf errichten. Zweifellos eine unkonventionelle Sicherheitsmaßnahme, doch in Ahaus, im erzkatholischen, konservativen Münsterland, wäre sie lange Zeit gar nicht nötig gewesen. Zumindest nicht bis zum 24. Juni 1997 – dem Tag, an dem, wie die AtomgegnerInnen sagen, „endlich der Deckel hochging“.
Nein, Zustände wie im Wendland herrschen hier nicht. Nur wenige BürgerInnen haben in ihren Gärten das gelbe X aufgestellt als Symbol des Widerstands gegen Atommülltransporte. Nichts deutet auf den ersten Blick darauf hin, daß hier in ein paar Tagen auf den verschlammten Äckern Zeltlager hochgezogen und Sitzblockaden errichtet werden; daß hier Hubschrauber kreisen und ein Polizeiaufgebot von mindestens 20.000 BeamtInnen in die Kleinstadt mit ihren 36.000 EinwohnerInnen einfallen wird. Nichts deutet darauf hin – außer den völlig durchnäßten Technikern, die an der Bahnstrecke zur BZA alle paar Meter Bewegungsmelder und Scheinwerfer auf Masten montieren. Und dem kleinen Trüppchen bündnisgrüner Abgeordneter aus Bonn und Düsseldorf, die vor den teilnahmslosen Augen zweier BGS- Beamter auf den Gleisen für die Fotografen probesitzen. Sechs Castor-Behälter mit abgebrannten Brennelementen aus den Atomkraftwerken Neckarwestheim und Gundremmingen sollen am Tag X ins Zwischenlager rollen. Manfred Laumann und seine Frau Anna werden zivilen Ungehorsam üben. Gewaltfrei. Höchstens ein bißchen „drängeln“. Laumann, der fünfzigjährige Operator im Rechenzentrum der Landwirtschaftskammer, hat sich extra eine Woche Urlaub genommen.
Manfred Laumann und Michael Ziegler kennen sich – sie gehören beide der katholischen Gemeinde St. Mariä Himmelfahrt an. Sie glauben beide an Gott, an die Schöpfung und an die Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen. Ziegler sieht in der Atomenergie eine sichere, saubere Energiequelle für seine Kinder und Enkel, Laumann hält sie für eine Anmaßung des Menschen. Was Ziegler über Jahre hinweg geschätzt hat, darunter hat Laumann über Jahre hinweg gelitten: an dem scheinbar ehernen Ahauser Gesetz, wonach man im Schützenverein, im Fußballclub, im Bauernverband, im Jugendblasorchester oder in der Kirchengemeinde nicht über den Atommüll vor der Haustür streitet.
Nicht, daß man den Ahausern das Zwischenlager seinerzeit hätte aufzwingen müssen. Als in den siebziger Jahren der größte Arbeitgeber, die Textilindustrie, wegbrach, da klopfte Stadtdirektor Heinz-Robert Jünemann bei der Atomindustrie an. Eine Brennelementefabrik oder eine Urananreicherungsanlage hätte man gerne gehabt. Die wurde schließlich im nahe gelegenen Gronau gebaut. Nach Ahaus kam – zur Enttäuschung vieler – „nur“ das Zwischenlager. „Gronau kriegt den Speck, Ahaus den Dreck“, hieß es damals. Allein eine Handvoll Leute in der Bürgerinitiative „Kein Atommüll nach Ahaus“, ein paar Bauern sowie eine „Unabhängige Wählergemeinschaft“ sorgten hin und wieder für Störsignale in einer ansonsten zufriedengestellten Gemeinde.
Sieben Millionen Mark „Strukturhilfe“ butterte die BZA 1979 in den Haushalt der Stadt. Weitere Millionen folgten, dank deren die Kommune ein Wellenbad – mit Solarenergie – finanzierte, Sportstätten für die 27 Sportvereine baute und die Grundstückspreise drückte. Hausbesitz gehört in Ahaus heute zum guten Ton. Streng wirkende Einfamilienhäuser mit dunkelroten Klinkersteinen und penibel gepflegten Gärten reihen sich aneinander. Dazwischen das Wasserschloß aus der Barockzeit und die Stadthalle, in der die Kreislandfrauenversammlung tagt, „Eintracht Ahaus“ die Weihnachtsfeier ausrichtet oder die Kreiskaninchenschau stattfindet. Die BZA greift hier und da helfend ein: ein bißchen Sponsoring für die Fußballer von der Eintracht, eine kleine Spende für den Kirchenchor von St. Josef oder den Ammelner Jägerverein, der wiederum sich um die fachgerechte Pflege der drei Bisons vor dem Zwischenlager kümmert.
Daß Ahaus kräftig vom Widerstand der Anti-AKW-Bewegung profitiert, deren große Kämpfe anderswo ausgetragen wurden, hatte vor allem Stadtdirektor Jünemann von der CDU begriffen: In einem neuen Vertrag zwischen Kommune und BZA ließ sich die Stadt 1994 ihre Zustimmung zu einer zweiten Lagerhalle mit einer „Strukturhilfe“ von 160 Millionen Mark über die nächsten zwanzig Jahre abkaufen. Bis auf weiteres hat der Betreiber die Baupläne jedoch auf Eis gelegt.
Manfred Laumann hört es nicht gerne, wenn man Ahaus zum weißen Fleck der Anti-AKW-Bewegung erklärt. Dazu hat er sich in den letzten 14 Jahren zuviel Gespött der Nachbarn und zu viele dumme Sprüche auf dem Maifest anhören müssen. „Na, Laumann, machste wieder mit den Chaoten rum...?“ Die Chaoten – das waren und sind in Ahaus der Lehrer, der die BI mitbegründet hat, der Bauer, der gegen die BZA klagte, und die Katholiken aus Laumanns Pax-Christi-Gruppe, die die Unvereinbarkeit von göttlicher Schöpfung und Atomenergie immer wieder in ihrer Gemeinde St. Mariä diskutieren wollten. Die aber wollte oder traute sich nicht. Und wenn der Pfarrer in der Sonntagspredigt wagte, von „Ängsten vieler Gemeindemitglieder“ zu sprechen, dann standen nach dem Gottesdienst die Honoratioren der Stadt in der Sakristei, warnten vor „unvorsichtigen Äußerungen“ oder drohten mit der Kündigung des Kirchenblatt-Abonnements. Nichts, was gestandene AtomgegnerInnen in Münster, Hamburg oder Lüchow-Dannenberg erschrecken könnte. Aber in Ahaus hat dieses ungeschriebene Stillhalteabkommen lange funktioniert – eben bis zum 24. Juni letzten Jahres.
Laumann bewahrt das Dokument des Umbruchs in einer Klarsichtfolie auf: eine Acht-Punkte- Erklärung mit der Überschrift „Christen und Atomenergie“. Atomenergie sei wegen „vieler ernstzunehmender Ängste gesamtgesellschaftlich nicht konsensfähig“, steht da unter Punkt vier. Und: „Der – selbstverständlich gewaltfreie – Widerstand gegen das Brennelemente-Zwischenlager in Ahaus will deutlich machen: Der Ausstieg aus der Atomenergie muß nachdrücklich betrieben werden.“ Einstimmig hatten die 30 Mitglieder des Pfarrgemeinderats die Erklärung verabschiedet – „in einer kontroversen, aber liebevollen Sternstunde“, wie Jürgen Quante, der Pfarrer, sagt. Gewiß, es gab kräftigen Anstoß von außen: Die Fernsehbilder von den Blockadeaktionen gegen Castor- Transporte im Wendland waren noch in bester Erinnerung – ebenso die Ankündigung der Bundesumweltministerin Angela Merkel, die nächsten Castor-Behälter nach Ahaus zu schicken, weil die Bevölkerung dort so friedlich sei. „Besser“, sagt Laumann und lächelt zum erstenmal, „hätte sie die Leute gar nicht mobilisieren können.“ Womöglich war es dieser eine Satz, der den Deckel hochgehen ließ; womöglich war es Quante, der bei seinem Amtsantritt vor einem Jahr in unzähligen Privatgesprächen mit Gemeindemitgliedern zu hören bekam, was keiner öffentlich sagte: „daß den Leuten das Zwischenlager angst macht“. Nach der Acht-Punkte-Erklärung klopften ihm plötzlich Ahauser HandwerkerInnen auf die Schulter, die vorher nicht den Mumm hatten, den Mund aufzumachen – aus Angst, öffentliche Aufträge zu verlieren; nun plötzlich dankten ihm LehrerInnen, die sich vorher folgsam an die Maßgaben gehalten hatten, das Thema Atomenergie im Unterricht auszusparen.
Jünemann, der Stadtdirektor, kommt nicht mehr nach St. Mariä zum Gottesdienst, nachdem ihn eine Frau auf der Gemeindeversammlung unter dem donnernden Applaus der Anwesenden gefragt hat: „Können Sie das, was Sie getan haben, als Christ noch verantworten?“ Michael Ziegler, der Pressesprecher der BZA, ist in St. Mariä geblieben. Aber so ganz scheint er nicht zu begreifen, was da in seine Glaubensbrüder und -schwestern gefahren ist. Bei den Sonntagsspaziergängen um das Zwischenlager, deren Teilnehmerzahl über die Jahre zwischen 6 und 200 dümpelte, werden nun Gottesdienste mit ein paar tausend Menschen abgehalten. Dorothee Sölle, die evangelische Theologin, war vor ein paar Tagen in St. Mariä zu Gast und begann ihren Vortrag mit den Worten: „Kann man Gott lieben, wenn man die atomare Zukunft zuläßt? Ich meine: nein.“ Da leuchten die Augen des Katholiken Manfred Laumann, während der Katholik Michael Ziegler verbittert in sein Mineralwasserglas starrt. „So etwas kann sie ja sagen, aber nicht fünf Meter vom Tabernakel entfernt“, sagt er. „Hier macht sich eine gewisse Form des Fundamentalismus breit.“
Er wird am Tag X sein Feld räumen, sich im Ratshotel in der Stadt einquartieren, um an diesem Tag der Presse, wenn sie es denn hören will, die Vorzüge der neuen Castor-Behälter zu erklären. Die Laumanns werden sich vielleicht noch einmal den Dokumentarfilm über den Polizeieinsatz im Wendland ansehen, „nach dem es einem so richtig schlechtgeht“, und dann, am Tag X, zu den Gleisen „drängeln“. Pfarrer Quante wird am Zwischenlager sein. Nicht, um im Talar auf den Gleisen zu sitzen wie sein evangelischer Kollege, sondern „um meinen Gemeindemitgliedern beizustehen“. Heinz Robert Jünemann, vom kommunalen Toppolitiker zum Sündenbock mutiert, wird sich auf den Ruhestand freuen. Nein, noch mal würde er die Atomindustrie nicht in die Stadt holen. „Das gab so viel persönlichen Ärger – und dafür kriegt man ja keinen Pfennig.“
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