: Wut und Trauer über die Toten der vergangenen Tage sitzen tief: Zehntausende Kosovo-Albaner haben gestern in der Provinzhauptstadt Pristina und anderen Orten gegen die serbischen Angriffe demonstriert. Die serbische Polizei hielt sich weitg
Wut und Trauer über die Toten der vergangenen Tage sitzen tief: Zehntausende Kosovo-Albaner haben gestern in der Provinzhauptstadt Priština und anderen Orten gegen die serbischen Angriffe demonstriert. Die serbische Polizei hielt sich weitgehend zurück. Die Furcht der Nachbarn Albanien und Makedonien wächst. Sie erwarten von Athen, zu vermitteln.
„Wir sind bereit, für den Kosovo zu sterben“
Die Finger zum Siegeszeichen nach oben gestreckt und „Freiheit“ rufend, demonstrierten gestern Hunderttausende von Albanern im Kosovo. Die serbische Polizei, die bisher gegen jegliche Demonstration vorgegangen war, hielt sich überraschenderweise zurück. Lediglich einige hundert Zivilpolizisten beobachteten das Geschehen. Manche Demonstranten trugen albanische Fahnen mit sich, auch einige amerikanische Fahnen waren zu sehen.
In der Hauptstadt Priština hatten sich 80.000 Menschen versammelt. Die Demonstranten riefen immer wieder „Drenica“, den Namen jener Region 40 Kilometer westlich der Hauptstadt, die von serbischen Sicherheitskräften eingeschlossen ist. Seither ist die Atmosphäre auch in der Hauptstadt zum Zerreißen gespannt. Die Gesänge „Wir sind bereit, für Kosovo zu sterben“ waren eine Kampfansage an die „serbischen Besatzer“.
Wie gut die Demonstration in Priština organisiert war, zeigte sich, als sie sich auflöste. Nacheinander verließen Gruppen von mehreren hundert Menschen die Marschroute und gingen gemeinsam zurück in ihr Viertel. So sollten Übergriffe der Polizei vermieden werden. Allerdings wurde Chris Wenner, ein britischer Kameramann, Opfer eines Polizeiübergriffs. Er hatte gefilmt, wie ein serbischer Zivilist seine Pistole küßte. Eine junge Serbin, die gegen den Angriff auf den Kameramann protestieren wollte, wurde ebenfalls von Zivilpolizei angegriffen. „Jetzt werden sie mich und meinen Vater verhaften“, erklärte sie.
In der zweitgrößten Stadt des Landes, Peja (Pec), versuchte die Polizei, die Menschen schon vor dem Versammlungsort abzufangen. Serbische Zivilisten sollen dort nach Informationen der Nachrichtenagentur arta auf Demonstranten geschossen haben. Im ganzen jedoch überraschte die Zurückhaltung der serbischen Polizei. Angesichts des Treffens der Kontaktgruppe, die sich mit den Ereignissen im Kosovo befassen sollte, wurde von der sonst üblichen Gewaltanwendung abgesehen. Damit versuchte die serbische Führung im Kosovo erstmals darauf Rücksicht zu nehmen, welchen Eindruck ihr Verhalten im Ausland macht.
Dennoch fühlen sich die serbischen Nationalisten weiterhin im Recht. „Die Türken gehen gegen die kurdischen Separatisten vor, die Israelis gegen die Palästinenser, warum dürfen wir nicht gegen den Terrorismus der Albaner kämpfen?“ beklagte sich nach der Demonstration einer der Zivilpolizisten. Für ihn steht außer Frage, daß der serbische Staat das Recht hat, mit allen Mitteln gegen die kosovo-albanische Untergrundorganisation UCK und auch gegen die Bevölkerung vorzugehen. In den serbischen Medien wird als Beweis, daß auch in anderen Ländern so gehandelt wird, die deutsche Anti-Terror-Truppe GSG9 zitiert, die angeblich „keine Gefangenen macht“.
Der harsche Widerspruch aus dem Ausland, vor allem die Äußerung des US-amerikanischen Diplomaten Robert Gelbard, Milošević müsse gestürzt werden, hat jedoch auch Eindruck gemacht. Zwar wurde noch am letzten Freitag der deutsche Außenminister Klaus Kinkel im serbischen Fernsehen als „Kriegstreiber“ bezeichnet und Deutschland für die Vorgänge im Kosovo verantwortlich gemacht. Die Propaganda aber, die an die Zeit zu Beginn des Kroatienkrieges erinnert, wurde etwas zurückgenommen. Jetzt versucht man in Belgrad offenbar wieder Gesprächsbereitschaft zu signalisieren.
Auf der albanischen Seite wird nach den Worten des Präsidenten, Ibrahim Rugova, weiterhin eine friedliche Lösung des Konfliktes angestrebt. Dennoch scheinen die Ereignisse der vergangenen Wochen einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung bewirkt zu haben. Wenn die Albaner dazu gezwungen würden, wären sie bereit zu kämpfen, erklärten viele der Demonstranten. Nicht mehr das Eingreifen internationaler Truppen wurde gefordert, sondern deutlich demonstriert, daß die albanische Bevölkerung den Fehdehandschuh aufzunehmen bereit ist. „Wir sind keine Terroristen, wir kämpfen für unsere Freiheit.“
Seit den Massakern in Drenica wird auf der albanischen Seite Einigkeit demonstriert. Ibrahim Rugova bleibt der unbestrittene Präsident, andererseits ist die Kritik aus seiner Umgebung an der kosovo- albanischen Untergrundorganisation UCK fast verstummt. Die UCK, die ihre Kämpfer schon vor einer Woche aus Drenica zurückgezogen haben soll, könnte durchaus bald wieder Aktionsfähigkeit demonstrieren. Diplomaten vermuten, die Auseinandersetzungen könnten sich auf andere Regionen des Kosovo ausweiten.
Eine politische Lösung ist nicht in Sicht. Vertreter der albanischen Parteien schlagen als äußerste Kompromißlinie den Status einer Republik innerhalb Jugoslawiens vor, und das auch nur für eine Übergangszeit. Das große Ziel bleibt die Unabhängigkeit des Landes. Mit vagen Autonomieversprechungen will man sich keinesfalls zufriedengeben. „Der Kampf für die Freiheit“, so Mitglieder der „Demokratischen Liga das Kosovo“, „hat begonnen.“
Die Standpunkte der beiden Seiten scheinen mit jedem Tag unversöhnlicher zu werden. Daran ändert auch die Bereitschaft der serbischen Seite nichts, 67 Leichen von Opfern der Übergriffe in Drenica der albanischen Seite zu übergeben. Die Leichen sollten gestern nachmittag nach Skenderaj (Srbica) geschafft werden.
Bisher war es niemandem erlaubt, die Toten, darunter auch Frauen und Kinder, zu sehen. Die letzte Woche freigegebenen Leichen wiesen Folterspuren auf. Die Angehörigen der Opfer haben nach Angaben der LDK eine Autopsie durch internationale Gerichtsmediziner gefordert. Bis dahin lehnen sie die Bestattung ihrer Verwandten ab. Die Beerdigungsfeierlichkeiten werden wohl wieder zu einer großen Demonstration der Albaner werden. Erich Rathfelder, Priština
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