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Galgen oder Geige

■ Premiere einer Sarkisjan-Collage

Vor Beginn des Stückes wird das mit Klavier, schwarzem Tisch und fünf Stühlen karg ausgestattete Bühnenbild um sein symbolträchtigstes Requisit erweitert: ein weißer Schal wird als Tischtuch auf den Tisch gelegt und erweist sich im Laufe der Vorstellung nicht nur als titelgebendes Kleidungsstück, sondern auch als vielseitig verwendbar: Der Schal fungiert, je nach der Befindlichkeit der Akteure als Geige oder Galgen, als Balancierstange oder als Schlaginstrument.

Das Grotesken-Drama Der Schal der Kolumbina, inszeniert nach Motiven aus den Werken des Moskauer Dichters Sarkisjans, feierte vorgestern auf der Einfachen Bühne seine Deutschland-Premiere. Unter der Regie Anatoly Elizarovs geht das Moskauer Dramentheater Ruben Simonov vom Improvisationstheater aus.

So hat das Geschehen auf der Bühne nur einige Fixpunkte: Der Inhalt bezieht sich auf eine klassische Dreieckskonstellation von Kolumbina (Vera Trofimova), Pierrot (Vassily Michkov) und Harlekin (Vladislav Demchenko). Das Wandern der Liebe vom einen zum andern ist genug bedeutsame Banalität, um den Stoff in verschiedenen Formen umzusetzen.

Musik, Tanz und Pantomime dienen den drei klassisch kostümierten Akteuren als nonverbale Ausdrucksmittel und werden so zur Kombination gebracht, daß die Unkenntnis des Russischen kein Hindernis zum Verständnis des Philosophierens über die Liebe oder des Zitierens vergangener Theaterepochen darstellt.

Zumal die bizarrsten Szenen trotz des Improvisationsanspruchs gut einstudiert sind und durch ihre bildliche Kraft beeindrucken: Eine auf zwei Stühlen und mit entsprechender Geräuschkulisse stilisierte Autofahrt „naturalisiert“ sich quasi, als das Gefährt sich in zwei Raubtiere verwandelt, von denen Kolumbina das eine mit dem Schal streichelnd zähmt, während der andere Tiger sich ans Klavier setzt und die Begleitmusik intoniert.

Am Ende löst sich der Reigen in einem weiteren Fixpunkt auf: Pierrot klimpert eine absurde Eigenkomposition, während Kolumbina und der Harlekin langsam in klassischer Pose verharren. Pierrot singt im Hinausgehen noch eine Arie und wirft das weiße Tuch zurück auf den Tisch – der Schal hat seine Schuldigkeit getan.

Folke Havekost

Heute, 20.30 Uhr, Einfache Bühne, Ludwigstraße 13

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