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Der Tagtraum Sprache

■ Über den Essayband „Abziehbilder, heimgeholt“ von Schuldt, Roubaud und Kelly

Ist Le Pen, der (französische) Neofaschistenführer, kein Franzose? Dieser sensationellen Meldung waren Jacques Roubaud und Schuldt am 17. Mai auch in Hamburg nachgegangen, wo sie in der Freien Akademie der Künste einen gutbesuchten, zeitweise umjubelten Abend bestritten. Roubaud, Mathematiker und Dichter, rechnete vor: Ein Franzose ist ein Franzose, wenn seine Eltern Franzosen sind, sagt Le Pen. Dessen Franzosendefinition gemäß können jene Eltern jedoch nur Franzosen sein, wenn ihre Eltern gleichfalls allesamt Franzosen waren undsofort. Roubaud kommt zum Schluß, daß es entweder eine unendliche Anzahl von Franzosen gibt, die seit der Morgenröte am Anfang aller Zeiten als Franzosen gelebt haben, oder daß Le Pen kein Franzose gemäß der Definition Le Pens ist  . . . Alors. What's the stuff about? Worum geht es?

Schuldt, Hamburg-New Yorker Dichter, Übersetzer, Essayist und Elefant terrible im Porzellanladen Literatur hat drei namhafte Autoren aus ihrem interlinguistischen Exil ins Deutsche getragen. Abziehbilder, heimgeholt, erschienen bei Droschl in Graz, versammelt zwei Essays Roubauds, des amerikanischen Dichters Robert Kelly und einen von Schuldt.

In Vorträgen, die die Autoren im Herbst 1993 bei einer Literaturtagung in Osnabrück hielten, geht es den drei Autoren zwar um Sprache, das heißt Macht, das heißt Blumfelds Unterscheidung zwischen „L'état c'est moi“ und „L'état et moi“, mitnichten geht es ihnen jedoch um ein Weitergrassieren literarischer Verpolitisierung. Daß sprachorientierte Dichtung apolitisch sei, ist ja nicht leider, sondern gottlob, das heißt auf äußerst komplizierte Weise wahr. Es geht ihr um mehr, um Grammatik, nicht um den Menschen, sondern um die Menschen, nicht um Theoreme und Dogmen, sondern die von Menschen meist zum Schutz erdachten Mechanismen hinter diesen, um wieder auf den Menschen zurückzukommen. Hier allein „politisch-engagiert“ zu arbeiten hieße folglich bei den Mechanismen stehenzubleiben, eine Theorie abzulösen durch eine neue. Gerade dem verweigern sich aber Roubaud, Kelly wie Schuldt.

Alle drei Autoren richten sich jeder auf seine Weise vehement gegen sprachliche Verallgemeinerung, Vorurteile und verschriebene Konventionen, gleich ob diese political correctness, Fremdenhaß oder Multi-Kulti heißen. Die Sprache, das wundersamste System von glücklich sich ineinander fügenden Mißverständnissen, das die Götter je ersonnen haben, besteht nicht neben uns her . . . wie ein Tisch, sondern nur, indem jemand mit seiner Einbildung, seinen Prägungen und Erinnerungen tätig wird, schreibt Schuldt. Tätig zu werden, das heißt sich als einzelnen, mit Allmöglichkeiten versehen, zu verstehen, fordert auch Kelly: Ich bin die Grenze zwischen Welt und Sprache. Die Welt ist alles, was ich nicht gesagt habe . . . Der unablässige Versuch, die Schranke zu durchbrechen, Zeug über die Grenze zu schmuggeln, zur Sprache – oder zur Welt heimzukommen: Darum geht es.

Maria Gazzetti nannte Roubaud, Kelly und Schuldt in ihrer Einführung zu jener Lesung Dichter, die ihre Vaterländer verlassen, ihre Muttersprachen entblößen und Heimatländer vermehrfachen. Als Italienerin ist sie Teil eines vierstimmigen, polyglotten Chors, dessen Mitgliedern jede Sprache fremd ist, die sich dagegen wehren, als Abziehbilder heimgeholt zu werden in welches Reich auch immer.

Abziehbilder, heimgeholt wie auch Schuldts jüngst in der Edition Plasma erschienenen Übersetzung von Robert Kellys Geschichten aus Russisch seien also allen denjenigen ans Herz gelegt, die noch ein wenig zu abstrahieren vermögen vom täglich uns umschwirrenden Gewäsch, die noch immer nicht sogleich abwinken, gibt Schuldt verschmitzt zu bedenken: „Die Sprache ist der Tagtraum, den wir uns von der Welt machen.“

Mirko Bonnè

Robert Kelly, Jacques Roubaud, Schuldt: Abziehbilder, heimgeholt; Droschl Verlag, 118 Seiten, 22,– Mark

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