U-Bahn-Tunnel wird zur rasenden Flimmerkiste

Ab Mai können U-Bahn-Fahrer das „Tunnelkino“ erleben. Bilder an Tunnelwand werden durch Vorbeifahrt lebendig  ■ Von Mils Michaelis

In der heraufziehenden Dunkelheit des Kinos freut man sich auf den Anfang des Films. In der Dunkelheit des U-Bahn-Tunnels freut man sich auf gar nichts, höchstens auf dessen Ende. Zwischen den U-Bahnhöfen Zoo und Hansaplatz soll dies jetzt anders werden: Im reizarmen Grauschwarz des Unterirdischen sollen dort ab 1.Mai 1998 die Freuden des Kinos in Bild und Ton Einzug halten. Auf einer Strecke von 545 Metern werden dann die BVG-Benutzer in wechselndem Programm rund 30 Sekunden lange Filmspots sehen können.

Mit den 15 Zentimeter hinter den Fenstern der U-Bahnen projizierten Filmbildern realisiert der Künstler Jörg Moser-Metius seine Idee von einem „neuen, einzigartigen Medium“. Bislang nämlich bewegten sich die Bilder auf der Leinwand, während der Zuschauer statisch im Sessel verharrte. Moser-Metius' Tunnelkino kehrt dieses Prinzip um: Die von 900 Einzelbildprojektoren stroboskopartig aufblitzenden Bilder sind unbeweglich an die Tunnelwand montiert, während der durch die U-Bahn beschleunigte Fahrgast nun als Licht am Rande des Tunnels filmgleiche Bewegungssequenzen wahrnimmt.

Die Idee hatte Moser-Metius vor rund zehn Jahren. Ihr Prinzip ist die durch eine schnelle Abfolge von Einzelbildern erzeugte Bewegungsillusion. Das Grundprinzip allerdings ist das alte geblieben und fand erstmals vor rund hundert Jahren bei den ersten Filmprojektoren der Brüder Lumière (Paris) Verwendung: Damit der zwischen Lichtquelle und Objektiv vorbeigleitende Filmstreifen nicht einer wackeligen, verwischten Bewegung gleicht, muß der Filmstreifen bei jedem Einzelbild kurz gestoppt werden.

Gleich einer extrem schnellen Diaabfolge werden so entsprechend einer seit 1927 geltenden Normierung 24 Bilder pro Sekunde auf die Leinwand projiziert. Die lichtlosen Pausen zwischen den Bildprojektionen fallen dabei so kurz aus, daß das menschliche Auge nicht mehr imstande ist, sie wahrzunehmen. Für den Betrachter im Kino entsteht so die perfekt flimmerfreie Illusion bewegter Bilder. Um nun seine Idee der Bewegungsumkehrung realisieren zu können, mußte Moser-Metius bei der Koordination der 900 Einzelbildprojektionen vor allem eine sehr genau abgestimmte Regeltechnik entwickeln. „Die Grundidee ist recht einfach, doch die letztendliche Feinabstimmung der Projektoren ist wiederum sehr kompliziert.“ Damit tatsächlich vor den Fenstern der U-Bahn- Waggons ein perfektes Kinobild entsteht, muß die Abfolge der Lichtimpulse der Projektoren der jeweiligen Geschwindigkeit des vorbeifahrenden Zuges angepaßt werden.

Mit einem ersten erfolgreichen Testlauf im Sommer 1997 auf einem oberirdischen BVG-Gelände begann die Umsetzung der Pläne im Tunnel. Funktionieren mußte die Idee auch in kommerzieller Hinsicht. Der Aufwand von 4,5 Millionen Mark, die für Bau und Entwicklung der aufwendigen Projektions- und Steuerungstechnik vorzustrecken waren, soll sich durch deren Einsatz als Werbeträger amortisieren. „Von Anbeginn haben wir Kontakte zur Werbewirtschaft gesucht“, erläutert die für das Marketing zuständige Mitarbeiterin Solveig Wehking. Über den Verkauf kompletter Anlagen wird bereits mit Londoner Vertretern, die den Tunnel unter dem Ärmelkanal betreiben, sowie mit Pariser U-Bahnen verhandelt.

Bei so viel Zukunftsträchtigkeit läßt man sich für die Eröffnungsveranstaltung am 1. Mai dann auch nicht lumpen. Events auf dem Breitscheidplatz und um den Bahnhof Zoo sind geplant. In welcher Ahnenreihe man sich mit dem Projekt sieht, belegt die thematische Ausrichtung der Veranstaltungen am Werk Charlie Chaplins. Dessen Filme sollen dann unter Anwesenheit seiner Tochter Geraldine Chaplin sowohl im Tunnelkino als auch im konventionellen Zoo-Palast-Kino zur Aufführung gebracht werden.