■ Die SPD befindet sich in einem Zustand religiöser Verzückung: Aufbruch, Aufbruch – egal wohin
Große Zeiten, große Zeiten. Ein Ruck geht durch Deutschland. Neue Männer braucht das Land. Herausforderungen gilt es zu bestehen. Da soll sich keiner damit zufriedengeben, bloß eine Ära zu beenden. Laßt die Ären allüberall zu Ende gehen, im Wochenrhythmus. Einer ist bereit. Vor der Ära Kohl geht nun also die Ära Rau zu Ende. Der Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten mag Nordrhein-Westfalen nutzen oder schaden. Aber um Landespolitik geht es bei dieser Entscheidung nicht. Die SPD interessiert nur noch die bundespolitische Signalwirkung, ebenso wie bei den Wahlen in Niedersachsen. Zum Teufel mit der föderalen Struktur.
Der Abgang von Johannes Rau paßt gut in die Landschaft. Dieser Schritt hat gleich drei aus Sicht der SPD erfreuliche Begleiterscheinungen. Die Partei bleibt im Gespräch. Mit dem von den Grünen ungeliebten neuen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement demonstriert sie Distanz zum möglichen Koalitionspartner in Bonn, der ins Umfragetief gefallen ist. Außerdem läßt sich so schon vor den Bundestagswahlen das Versprechen eines Generationswechsels werbewirksam einlösen.
Nun ist ein Generationswechsel eigentlich noch kein Wert an sich. Die Gnade einer späteren Geburt bürgt nicht zwangsläufig für Qualität. Aber in einer jugendfixierten Mediengesellschaft fällt das vielen nicht auf. Zum Glück für die SPD. Außer dem Generationswechsel verspricht sie der Bevölkerung nämlich nicht allzuviel. Das Wahlprogramm eignet sich für jede nur denkbare Koalition, zielt mit Schlagworten wie Innovation, Leistung und den Chancen der Globalisierung auf die bürgerliche Mittelschicht und steht im übrigen unter Finanzierungsvorbehalt.
Gerhard Schröder ist aus der Sammlung von Gemeinplätzen kein Vorwurf zu machen. Er hat offen erklärt, daß er die Macht um ihrer selbst willen wünscht. Bedenklicher ist es, daß sich große Teile der SPD derzeit in einem Zustand zu befinden scheinen, der religiöser Verzückung gleicht. Sie sind im Aufbruch, egal wohin. Konzepte durch Köpfe zu ersetzen ist ein Patentrezept für künftige parteiinterne Zerreißproben. Aber vielleicht lassen die sich auf die Zeit nach den Bundestagswahlen vertagen. Den politischen Gegner in Not zu sehen fördert erfahrungsgemäß den eigenen Zusammenhalt. Und für die CDU und ihren Generalsekretär Peter Hintze mögen inzwischen ja nicht einmal mehr Tankstellen werben. Bettina Gaus
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