: In Kioto von allen Stadtbussen gehetzt
■ Kann man in Japan radfahren? In den Städten eigentlich nur auf den Bürgersteigen, auf dem Land dafür hervorragend. Ein Reisebericht
Japanische Zollbeamte tragen dunkelblaue Uniformen, machen gern ein entschlossenes Gesicht, aber im Grunde genommen haben sie den Schalk im Nacken. Da sind sie, Vorurteile über die Ernsthaftigkeit von Ostasiaten hin oder her, nicht anders als die Zivilbevölkerung. Es kommt halt darauf an, wie man sich ihnen nähert.
Der junge Uniformierte am internationalen Flughafen von Osaka jedenfalls zeigte sich zunächst einmal besorgt. Eine so große Tasche bringen nicht viele Europäer mit. Die Frage nach der Herkunft des Besitzers, auf japanisch gestellt, war noch einigermaßen verständlich. Aber schon die wohlgemeinte Antwort „Doitsu desu“ („Ich bin Deutscher“) war nicht unbedingt von Vorteil. Nein, um Gottes willen, ich hatte mal gerade ein paar Brocken Japanisch auswendig gelernt, aber das reichte doch nicht für die Zollkontrolle. Die große Tasche wurde geöffnet und darin war mein Rennrad zu sehen. Jedenfalls der Rahmen und die abmontierten Laufräder.
Unter der Uniformmütze hellte sich die Miene auf. In Englisch befand der junge Mann mit Kennerblick: „Das sind ja Shimano-Bremsen.“ 1:0 für mich. Doch der Gegentreffer folgte auf dem Fuße. „Haben Sie Drogen dabei? Vielleicht im Fahrradrahmen? Sollen wir den mal aufsägen?“
Nach insgesamt achtzehn Stunden Flugzeit können einem solche Scherze ganz schön auf die Nerven gehen. Wenn es denn einer war. Wohl wegen meines freundlichen Lächelns und der Versicherung, daß Sportler doch eigentlich keine Drogen nehmen, nicht einmal so langhaarige, ausgezehrte Ein-Meter-achzig-Männer wie ich, beließ es der Uniformträger beim kräftigen Durchschütteln des Rahmens. Ergebnis: Das Rad war drogenfrei.
Dem Taxifahrer vor dem Hauptbahnhof, ein älterer Herr mit weißen Handschuhen, war's trotzdem nicht geheuer. Er hatte große Sorgen um den leinenbespannten Rücksitz seines Wagens. Meine Fahrradtasche schien eine zu große Gefahr für die gehäkelten Ränder seiner Schutzdecken zu sein. Natürlich reichte mein japanischer Sprachschatz nicht aus für eine ausführliche Diskussion. Da half nur insistieren.
Ein Blick aus dem Autofenster machte schnell klar: Japan ist ein Land der Fahrradfahrer. Allerdings nicht so, wie wir es kennen. Das, worauf Herr Tanaka oder Frau Katayama fahren, nennen Rennrad-Freaks wohl eher einen „Trecker“: schwarzes Einheitsdesign, rustikale Bauweise, 26 Zoll mit dem Sattel in Höhe der Laufräder. Ein echtes Stahlroß. Und scheinbar unabdingbar: der Metallkorb am Lenker. Mit diesem Kampf-Velo bevölkerten die Menschen vorzugsweise die Bürgersteige. Diesem Umstand sollte ein „Gai-jin“, ein „Fremdmensch“ (ehrlicher übersetzt: eine „stinkende Langnase“) jederzeit Rechnung tragen. Wer nach Japan reist, um dort Fahrrad zu fahren, sollte sich von vornherein darauf gefaßt machen, aktiv am Straßenverkehr teilzunehmen.
Zunächst einmal ist Japan, topographisch gesehen, ein anspruchsvolles Radlerland. Wo es nicht flach ist, wie bei uns in Ostfriesland, da türmen sich Berge auf. Dort sollte man sich auf immer auf anstrengende Steigungen gefaßt machen. Hügellandschaften sind unbekannt, also sollte mindestens ein sehr großes Hinterradritzel zur Ausstattung gehören. Im Flachland wohnen die Menschen meistens dicht gedrängt. Kioto zum Beispiel ist keine besonders große Stadt. Sie liegt in einem Talkessel, umgeben von Bergen bis ungefähr 1.000 Meter Höhe. Da in diesem Kessel allerdings knapp über zwei Millionen Menschen leben, ist der Straßenverkehr entsprechend dicht.
Das Verhältnis des Durchschnittsjapaners zu seinem Auto ist männlich universal: „My car is my tank.“ Oder auch: „Komm meinem Ersatzphallus nicht zu nahe.“ Es passierte häufiger, daß japanische Autofahrer gar nicht gut auf einen langen, schwarzgekleideten Gai-jin auf einer Rennmaschine zu sprechen waren, etwa, wenn der auf dem Mittelstreifen am stockenden Restverkehr vorbeirauschte. Oder auch am linken Fahrbahnrand. (In Japan gibt es Linksverkehr.) Da wurde hin und wieder alle asiatische Zurückhaltung aufgegeben und auf Teufel komm raus gedrängelt und geschnitten. Wohlgemerkt: Auto gegen Fahrrad bei fast vierzig Stundenkilometern. In einer Hauptverkehrsstraße mit regem Busverkehr ist das nicht nur gefährlich, es ist lebensgefährlich.
Für japanische Großstädte gilt: Entweder ist das eigene Fahrvermögen so gut, daß man sich diesen Gefahren durch souveräne Ausweichmanöver entzieht, oder man gibt von vornherein nach. Es ist wirklich nicht spaßig, von einem Stadtbus verfolgt zu werden, der einen an den Straßenrand drängen will. Sobald man sich darauf eingestellt hat, und natürlich sind nicht alle japanischen Autofahrer rücksichtslos, kann so ein Stadtausflug, selbst im Moloch Tokio, eine interessante Angelegenheit werden.
Der Vorteil eines mitgebrachten Rennrades liegt auf der Hand. Man ist schneller unterwegs als mit öffentlichen Verkehrsmitteln und vor allem: wesentlich mobiler. Aus touristischer Sicht bedeutet dies eine große Zeitersparnis. Allerdings: Eine relativ teure Rennmaschine ungesichert abzustellen ist auch in Japan nicht ratsam. Trotz einer Kriminalitätsrate, die gegen null tendiert, kommen vereinzelte Diebstähle vor. Aber ein einfaches Kettchen mit einem Schlößchen hält jeden potentiellen Dieb ab. Das haben mir viele Einheimische bestätigt. Außerdem sind Kioskbesitzer oder Eintrittskartenverkäufer vor den Sehenwürdigkeiten gern bereit, ein Auge auf das Rad zu werfen. Da ergänzen sich eine natürliche Hilfsbereitschaft und die ausgesprochene Gastfreundschaft in perfekter Weise. Außerdem war der Zollbeamte in Osaka keine Ausnahme. Ein kleiner Hinweis auf die in Japan herstellten Shimano-Komponenten an der Maschine und deren Qualität wirken wie ein goldener Schlüssel. Ein Deutscher, der japanische Wertarbeit lobt, kann kein ganz schlechter Mensch sein.
In einer Stadt wie Kioto ist die Orientierung sehr einfach, weil die Stadtplaner nach einem Schachbrettmuster vorgegangen sind. Außer einigen wenigen Ausnahmen verlaufen alle Straßen in Nord-Süd- oder Ost-West-Richtung. Tokio ist da ein ganz anderes Kaliber. Aufgrund seiner Ausmaße und dem beinahe unentschlüsselbaren Wirrwarr des Stadtplans sollten dort nur diejenigen losradeln, die schon ganz genau wissen, wo sie hinwollen. Eine Fahrradtour durch Tokio auf blauen Dunst kann sehr leicht in einem Stadtteil enden, von dessen Existenz man niemals vorher gehört hat. Und eine Rückreise mit der U-Bahn kann Stunden dauern – bis nämlich die immerwährende Rush-hour vorbei ist.
Auf dem Land ist Nippon ein Radlerparadies. Abseits der Highways und Hauptverkehrsadern auf dem Lande kann man die Hauptinseln Honshu, Kyushu und Shikoku gut erschließen. Japan ist allerdings langgestreckt, das sollte bei der Reiseplanung nicht vergessen werden. Wer nicht sehr viel Zeit mitbringt, muß sich schnell von der Vorstellung verabschieden, alle interessanten Gebiete per Rad erreichen zu können. Zum Glück ist das Eisenbahnnetz ebenso dicht wie perfekt organisiert. Man sollte sich jedoch vorher informieren, welche Fahrkarte zu welchem Preis und vor allem mit welcher Linie die günstigste ist. Manchmal fahren zwei oder drei verschiedene Bahnbetriebe denselben Ort an.
Die Fahrradmitnahme im Zug ist im Prinzip kein großes Problem. Um bösen Überraschungen aus dem Weg zu gehen, ist der Erwerb eines speziellen Rad-Tickets ratsam, auch wenn viele Schaffner davon noch nie gehört haben wollen. Auch im Super-Schnellzug, dem Shinkansen, bekommt man während der Rush-hour kein Bein auf die Erde. Aber außerhalb der Spitzenzeiten oder bei einfachen Expreßzügen stellt man sich an den richtigen Platz auf dem Bahnsteig, die Züge halten immer zentimetergenau an der gleichen Stelle. Gleich hinter dem Eingang gibt es in den Shinkansen-Waggons Platz für etwas größeres Gepäck wie eine Fahrradtasche.
Besonders auf dem Lande ist die Beherrschung von ein paar japanischen Sprachbrocken äußerst nützlich. Bei einer Panne habe ich mal einem Händler solange etwas von „supoku“ vorgejammert, bis ich die richtige Speiche bekam. Viele Bezeichnungen von Fahrradteilen sind der englischen Sprache entlehnt, man muß nur wissen, wie es ausgesprochen wird.
Das ist bei der Nahrungsaufnahme natürlich ebenso von Vorteil. Um nicht zu verdursten oder zu verhungern, reicht zwar meistens der Gang in einen Supermarkt, aber beim Frühstück oder Abendessen in einem „Ryokan“ (Landgasthaus, sehr teuer) oder einem „Minshuku“ (Familienpension) kann es notwendig werden, gezielt nach eiweiß- oder kohlehydrathaltigen Essenskomponenten zu fragen. Fisch, Seetang und Reis am Morgen vor einer Tour schmecken zwar ausgezeichnet, aber halten nicht lange vor. Da hilft dann auch eine Nudelsuppe zwischendurch nicht viel weiter. Bei aller Begeisterung für die japanische Küche sollte halt der Kalorienhaushalt mit Bananen, Müsliriegeln und Mineral- und Früchtedrinks aufgepeppt werden. Getränke gibt es übrigens in Japan an jeder Ecke im Automaten. Kleiner Hinweis: Die Bierschächte werden abends gegen elf Uhr abgestellt, also vorher dran denken.
Alkohol ist nicht nur teuer, sondern oft nur in Verbindung mit einer Mahlzeit zu erhalten. Ein gepflegtes Besäufnis nach einer Radtour sollte man erst nach sorgfältiger Konsultation der Geldbörse in Erwägung ziehen. Zwischen acht und zehn Mark pro Halbliterflasche „Kirin“ oder „Sapporo“ muß man schon anlegen. Bei der Behandlung von vermeintlichen Trinksündern ist die Polizei übrigens recht tolerant und ausgesprochen pragmatisch.
So wurde ich mal im Norden Kiotos morgens um drei von einem Streifenwagen angehalten. Mit einer eindeutigen Geste wollten die Beamten wissen, ob ich denn getrunken hatte. Klar, gab ich zu verstehen, aber nicht besonders viel. Ich wurde dann aufgefordert, auf dem Mittelstreifen der Imedagawa-Dori zu balancieren. Klappte hervorragend! Unter allseitigem Gelächter durfte ich wieder aufsteigen. Die Männer in ihren Uniformen haben sich jedenfalls prächtig amüsiert. Daß ich ohne Licht fuhr, hat die beiden nicht interessiert. Jürgen Francke
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