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Piano-Attacken und Soul in Zeitlupe

■ Die Pianistin Myra Melford und Sidsel Endresen beendeten das „women in (e)motion“-Festival

Zum Finale gab es bei „women in (e)motion“an diesem Wochenende ein Doppelkonzert mit sehr eigenwilligen und extremen Musikerinnen. Bei der New Yorker Pianistin Myra Melford konnte man schon am kämpferisch wirkenden Outfit erahnen, daß sie das Piano mit furioser Technik und Energie attackieren würde. Kurzgeschorene Haare, schwarze Leinenhose und Weste sowie eine intensive, ganz auf die Musik konzentrierte Bühnenpräsenz: Kein Wunder, daß die KritikerInnen bei ihr zu solchen sportlichen Vergleichen greifen wie „Diese Frau ist eindeutig kein Leichtgewicht“(Jazz Times).

Der Titel ihrer ersten Komposition „Shout“war dann auch Programm; mit ganzem Körpereinsatz, stampfenden Füßen und fliegenden Händen spielte die junge Pianistin offensichtlich am liebsten fortissimo, aber dennoch war ihr Set alles andere als narzißtisches Angeben mit leerer Virtuosität. Innerhalb einer knappen Dreiviertelstunde deckte sie ein erstaunlich weites Terrain des zeitgenössischen Jazz ab. Fast ist man versucht, ihr ständiges Wechseln der Genres und Stile, etwa vom klassischen Bluespiano zu rhapsodischen Annäherungen an die Neue Musik und dann weiter zu den Free-Jazz Clustern als postmodern zu bezeichnen, aber dazu klingt dann alles wieder zu authenisch. Myra Melford zitiert nicht wild aus allen Richtungen, sie hat einfach nur eine immense Bandbreite und kann mit neoromantischem Schönklang genauso überzeugen wie mit wilden Soundkaskaden in den tiefen Tonlagen.

Wie ein Stoß von der Ekstase in die Trance wirkte der Wechsel zwischen den beiden Musikerinnen. Die norwegische Vokalistin Sidsel Endresen dehnte ihre Stücke mit einer minimalistischen Langsamkeit. Ein Soul-Standard wirkte wie in Zeitlupe gesungen, und die Coverversionen wie von „50 Ways to Leave Your Lover“oder „The Lady is a Tramp“bekamen durch ihr musikalisches Ausbremsen eine ganz eigentümliche Grundstimmung.

Jeder Song war eher ein Experiment als eine Interpretation, und bei den eigenen improvisierten Stücken bewegte sich Sidsel Endresen noch weiter weg von den Konventionen des Gesangs. So erzeugte sie bei einem Stück mit ihrem Mund völlig unorganisch klingende Töne, die noch am ehesten an das Schleifen von U-Bahn-Schienen erinnern. Manchmal schien Sidsel Endresen hier nichts weniger zu versuchen, als die Grenzen der Musik auszukundschaften. So spannend ist ein Auftritt selten: Man wußte nie, was man in der nächsten Sekunde zu hören bekommen würde, und wenn man glaubte, als Grundprinzip die Dekonstruktion der Liedform erkannt zu haben, ließen sich Endresen und ihr Pianist Bugge Wesseltoft in einen konventionellen, wenn auch äußerst artifiziellen Soul-Groove fallen, und man war wieder so ratlos wie vorher. Wesseltoft erwies sich als kongenialer Partner, der auch als Perkussionist auf Tabla und Daumenklavier jedem Stück noch mehr befremdliche Klangfarben zufügte. Bei aller Abseitigkeit der Musik war das Zuhören nie anstrengend. Jedes Stück hatte eine eigene, seltsame Schönheit, und Sidsel Endresen wirkte zwar oft selbstverloren auf der Bühne, setzte dabei aber ihre Effekte genauso präzise und virtuos ein wie Myra Melford.

Wilfried Hippen

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