Im Schlund New Yorks

■ Der Mensch und der urbane Moloch: Das Metropolis-Kino zeigt morgen ein Programm mit „City Symphonien“

Manhattan wurde zwar von Menschenhand errichtet, aber zu melden hatte der Mensch erstmal gar nichts auf Manhattan. Kahl und kühl stehen die Hochhaus-Kolosse in Under The Brooklyn Bridge von 1953 im Bild, als seien sie von Gottes Hand da hingestellt; die Straßen sind leergefegt. Eine interessante Umkehrung der Zivilisationsgeschichte nimmt Rudy Burckhardts in scharfen Schnitten vorantreibender Film vor: Zuerst ist da nur Beton, feindlich und undomestiziert, und der Mensch muß ihn sich Untertan machen. „Building coming down“– in schnell montierten Standbildern sehen wir, wie Wolkenkratzer und Warehouses bis auf den letzten Stein abgetragen werden. Der Mensch erschließt sich Lebensraum, indem er den von anderen errichteten Lebensraum zerstört. Gegen Ende schließlich gehen ein paar Jungs nackig unter der Brooklyn Bridge baden – die Rückeroberung des Paradieses im Brackwasser des East Rivers.

Das Metropolis zeigt morgen unter dem Titel „City Symphonien“eine Rolle mit amerikanischen Großstadtfilmen; auf mannigfaltige Art werden hier der Mensch und der urbane Moloch in Beziehung gesetzt. Eine der ersten City-Symphonien schufen der Maler Charles Sheeler und der Fotograf Paul Strand im Jahr 1921: Manhattan zeigt, wie Berufstätige am Morgen per Fähre die wohl berühmteste Insel der Welt gleichsam fluten, um dann in die Geometrie von Architektur und Infrastruktur einverleibt zu werden. Der Mensch ist hier nur der kleinste Teil eines monströsen Systems, und die Kamera fährt in Schwenks von den ausgehobenen Gruben der U-Bahn zu Bauarbeitern, die in luftiger Höhe die Stahlgerüste immer neuer Wolkenkratzer errichten. Wer den strikten horizontalen und vertikalen Bewegungen des Films folgt, kann ahnen, wo sich John Dos Passos das Strukturprinzip seines epochemachenden Romans Manhattan Transfer geborgt hat. Wollte die Literatur damals up to date sein, mußte sie das Kino imitieren.

Manchmal aber imitierte das Kino immer noch die Literatur. Mit eigenen Mitteln, versteht sich. So wie Willard van Dyke 1940 in Valley Town – der vielleicht eine Symphonie ist, auf jeden Fall aber den Regeln des Requiems gehorcht (brillanter Score!) und auf die Macht der klassischen Erzählerstimme setzt. Zuerst sehen wir die Bilder von Fabrikruinen; keine Frage, dieser Film handelt vom Sterben. Obwohl er zwischendurch flott im Beat der Maschinen swingt. Hier wird noch einmal die Idee des kollektiven Ganzen von Mensch und Maschine beschworen, um schließlich Rationalisierung, Automation und Kapitalakkumulation anzuprangern. Der russische Revolutionsregisseur Eisenstein hat genauso seine Spuren hinterlassen wie der amerikanische Melodram-Übervater Griffith. Sehr anrührend, sehr analytisch.

Helen Levitt und James Agee hingegen dürfte die Analyse Schnuppe gewesen sein. Schon weil ihr In The Street, in der Hard-Bop-Hausse der Fünfziger entstanden, eher den Prinzipien der Improvisation folgt als denen einer Symphonie. Da, wo die Häuser New Yorks niedriger werden, aber der Schlund der Stadt umso tiefer klafft, haben die beiden ihre lässig aneinandergereihten Eindrücke eingefangen: raufende Kinder, alte Weiber, dreckiger Asphalt. Slum-Impressionen, die in ihrem Willen nach Authentizität heute ein bißchen plump wirken, ihrer Zeit aber weit voraus waren.

Überhaupt Authentizität: Der umfassende und schonungslose Großstadtreißer Weltstadt in Flegeljahren (siehe Fotos), den der deutsche Schriftsteller Heinrich Hauser 1931 in Chicago gedreht hat und der morgen als Einzelprogramm gezeigt wird, hat seinerzeit hierzulande für helle Aufregung gesorgt. Ein Kritiker fühlte sich gar seines amerikanischen Traums beraubt: „Man hat uns ein Jahrzehnt belogen und betrogen, jetzt zerrinnen alle Amerika-Illusionen.“Das Metropolis zeigt morgen Kino ohne Illusionen – aber mit enormen Schauwert.

Christian Buß

„Weltstadt in Flegeljahren“: morgen, 19 Uhr. „City Symphonien“: morgen, 21.15 Uhr, Metropolis. Einführung: Thomas Tode