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Karten & Gestrandete

■ Die Galerie der Gegenwart zeigt mit „Emotions & Relations“erstmals Nan Goldin mit der Boston School

Der zweite Stock der Galerie der Gegenwart ist nicht wiederzuerkennen. Dort, wo sonst das Tageslicht hineinflutet, formen Wände ein Inneres, das künstlich beleuchtet werden muß. Eine andere Welt entfaltet sich, eine, in der es meistens Nacht ist, die sich in Zimmern abspielt und nur selten, ganz selten in der Mittagshitze an einem Swimming-Pool. Schon bei der ersten Präsentation der Arbeit Nan Goldins 1991 in Hamburg, in der Galerie, die Sammler F. C. Gundlach im Bunker an der Feldstraße eingerichtet hatte, paßte der Raum zu den Bildern.

Inzwischen ist Goldins Diafolge „Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“täglich in der Galerie der Gegenwart zu sehen, und Goldins Werk fand in den vergangenen sieben Jahren schrittweise den Weg in die Museen. Wenn jetzt zum ersten Mal Arbeiten der sogenannten Boston Group im Zusammenhang zu sehen sind, zu der außer Nan Goldin David Armstrong, Jack Pierson, Mark Morrisroe und Philip-Lorca DiCorcia gehören, mit ihrem Menschenbild zwischen Leben und Tod, Glamour und düsterer Romantik, dann werden die Wurzeln dieses Werks beleuchtet. Alle fünf studierten gleichzeitig am ICA in Boston, saßen sich gegenseitig Modell oder fotografierten dieselben Leute. So ist jeder Teil der Lebens-Ballade des anderen. F. C. Gundlach konzipierte auch diese Schau, die den Blick auf die unterschiedlichen ästhetischen Konzepte richtet.

Befragt, was der Kern ihrer Arbeit sei, gibt Goldin zur Antwort: „Es geht um Gefühle und Beziehungen.“Mit einem Portfolio dokumentierte sie das Sterben ihrer aidsinfizierten Freundin Cookie Miller, die Texte schrieb und in John Waters Filmen mitspielte. Das Bild eines leeren Zimmers mit blutbespritzten Wänden in einem besetzten Berliner Haus wirkt auf geheime Weise verbunden mit Bildern, die etwas ganz anderes darstellen, wie etwa „Bobby masturbating“. Goldin fotografiert Einsamkeit und Gewalt, ohne sie zu beschönigen, aber auch, ohne sie preiszugeben. Ihre Fotografie ist, wie die ihrer Kollegen, keine Straight Photography, nicht nüchtern dokumentarisch, sondern Teil eines als Kunst inszenierten Lebens, einer großen Lebens-Erzählung.

Kaum zu erkennen, mit Motorradjacke und kurzen Haaren taucht Nan Goldin 1974 zum ersten Mal auf einem Foto von David Armstrong auf. Beide verbindet die längste Freundschaft des Quintetts, und seit sie sich 1969 auf einer San Franciscoer Hippieschule kennenlernten, teilen sie Freunde, Drogen, Höhen, Tiefen und manchmal auch Liebhaber. Ihr gemeinsames Portfolio „Double Life“dokumentiert die unterschiedlichen Herangehensweisen. Armstrongs Schwarzweißbilder gehören den klassischen Sparten Bildnis und Landschaft an und orientieren sich unübersehbar an den europäischen Wurzeln der Fotografie. Seine Porträtierten wirken ernst und ruhig. Die Posen läßt Armstrong seine Modelle selbst ausprobieren, bis eine gefunden ist, die eine Quintessenz möglicher Gefühle enthält.

Mark Morrisroe, der 1989 mit 30 Jahren an den Folgen von Aids starb, war ein konsequenter Selbstdarsteller, der die Wahrheit in der Lüge suchte und fand, der sich selbst als Verlierer sah und verlor. Er arbeitete als Stricher und nannte sich als Herausgeber eines Fanzines „Mark Dirt“. Verschiedene Negative kombinierte er in Sandwichtechnik, schuf verführerische Bilder, um sie zu zerkratzen und mit absichtlichen Fehlern zu versehen. Als „Caspar David Friedrich im Donut Shop“sah ihn sein Freund Jack Pierson.

Seine eigenen Fotos sind für Pierson wie Postkarten, die das Gefühl flüchtiger Momente festhalten sollen. Grelle Farben, viel Licht, Ausschnitthaftigkeit sind die Merkmale von Piersons Bildern nackter Männer oder ganz banaler Gegenstände, denen er gleichermaßen eine Dosis Glamour verpaßt.

Philip-Lorca DiCorcia ist ein Regisseur, und seine Modelle sind Akteure. Seine scheinbaren Schnappschüsse entspringen einem bis ins kleinste durchgefeilten Drehbuch. Seine Porträts von Strichern entwerfen das Bild eines „Hollywood der Gestrandeten“. Erst die Bildtitel, die stereotyp Namen, Geburtsort, Alter und Preis der Porträtierten nennen, erinnern daran, daß hier die Rückseite des amerikanischen Traums dargestellt ist. Für die meisten endet er eben nicht auf der Leinwand, sondern auf dem Santa Monica Boulevard.

Julia Mummenhoff

bis 1. Juni, Galerie der Gegenwart; Katalog „Emotions & Relations“, Taschen Verlag, Köln 1998, 200 Seiten, 29.90 Mark

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