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The Big Willy

Suche WG im Land, wo Artburger und Gitarren wachsen. Williamsburg, die Northside von New York, ist in: der Stoff aus dem Multikulti-Träume sind  ■ Von Patrick Hönig

Eben noch habe ich am Geländer der Williamsburg-Brücke gelehnt, fasziniert vom Panorama, von den Lichtreflexen auf den Glaspalästen Manhattans. Dann kehre ich dem Herz der funkelnden Weltstadt den Rücken. Goodbye Loneliness, hello Williamsburg! Am Ende meines Drei- Kilometer-Spaziergangs über den East River ist mir klar: Die bürgerliche Idylle Williamsburg hat sich in acht Jahrzehnten Industriegeschichte in eine karge Mondlandschaft verwandelt. Fabrikschlöte, Autofriedhöfe, Abrißhäuser. Die „Domino“-Zuckerraffinerie verströmt den Duft verbrannter Crème Brûlée. Der sechsspurige Brooklyn-Queens-Expressway schneidet auf Stelzen durchs Viertel. Darunter liegen Penner. Und die grüne Lunge, der Mc Carren Park, ist handtellergroßen Käfern und dem Kahlschlag zum Opfer gefallen. In dieser Gegend also wohnt mein alter Freund M.C. Als ich ihn endlich in die Arme schließe, hat er meinen Schlafsack schon gesehen. „Schön, daß du bleibst!“ sagt er. Ich bin nicht so sicher.

M.C. zeigt mich rum in seiner Fabrik-Loft, in der sie früher Foto-Substanzen hergestellt haben. Mit Leidenschaft führt er mir die Sprechanlage vor, die er in einer alten gelben Bustelo-Espresso- Dose installiert hat, erklärt mir die Wasserverdrängung des Zylinder- Schwimmers im Toilettenkasten. Als durch die bräunlich schimmernde Kassettendecke ein wenig Putz auf uns herabrieselt, läßt er sich nicht stören. „Noch nicht ganz fertig“, murmelt er bloß.

Draußen auf dem Hof kommt uns Amy mit der Gießkanne entgegen. Wenn sie nicht in ihrem Atelier Schränke zimmert, kümmert sie sich um den Garten. In kleinen rechteckigen Feldern baut sie nicht Möhren oder Kartoffeln an, sondern Cat-Nip, Katzen- Kräuter aus der Minz-Familie. „Verwöhnte Biester“, raune ich M.C. zu. Er lacht nur und deutet auf einen obskuren Schutthügel: „Altlasten!“

Heather und Lucy holen uns zum Essen ab. Wir gehen zum „Plan Eat“, dem kosmopolitischen Thailänder auf der Bedford Avenue. Ein freundlicher, heller Raum wirft das Echo von Tellerklappern und Gelächter zurück. Rasta-Locken und Girlie-Zöpfe, vereint im Stäbchen-Kult und Party Talk. „Und, gefällt's dir in Willy-Burg?“ fragt mich Heather erwartungsfroh. Verräterisches Schweigen. Die „Northside“, wie meine Begleiter ihre Gegend liebevoll nennen, ist nämlich „in“. Die Northside, das ist der Stoff, aus dem die Multikulti-Träume sind! Schau mal, reden sie auf mich ein: Im Süden haben wir die Southside, Puerto-Rico-Flaggen in den Fenstern, wummernde Bass-Reflex- Boxen in den Autos, Merengue auf den Straßen. Dann die Rauschebärte der orthodoxen Juden, breitkrempige Schwarzhüte, Koscher- Kost. Im Norden Klein-Polen, sternförmig angelegt um das Vereinslokal des örtlichen Fußballklubs: „FC Polska Greenpoint“. Von Osten weht der Flair Italiens herein und von Westen eine frische Brise vom East River und der angrenzenden Mülldeponie. Die Northside profitiert von allem: Der polnische Supermarkt „Tops“ zum Beispiel läßt vom Hummerbecken bis zur Exotik-Theke – bestückt mit holländischen Tomaten! – nichts aus, was das Feinschmecker- Herz höher schlagen läßt. Bei „Kasia's“ bekommt man die besten Pierogis, mit Käse oder Fleisch gefüllte Teigtaschen, und Borscht. „Beans“ serviert Bohnengerichte satt, aber für ein Dos Equis oder eine Frozen Margarita im „Vera Cruz“ ist immer noch Platz. „USA Waste“ hält das Viertel in den frühen Morgenstunden mit donnernden Trucks am Leben. Und schließlich „Joe's Busy Corner“, der italienische Delikatessenladen und Shopping-Treffpunkt auf Driggs Avenue: Er hat Parmesan am Stück da und selbstgeräucherten Mozzarella aus Büffelmilch! Apropos, unterbricht Lucy und erzählt die Anekdote vom Namensgeber Joe-Joe, der mit 84 Jahren noch immer in seiner Band spielt, den „Sym-Phonies“, ein Wortspiel, das an die Symphoniker erinnert, aber auch Aufschneider bedeuten kann. Bei seinem letzten Auftritt mit der Zimbel hat er alle Autogramm-Wünsche brüsk abgewehrt: „Was wollt ihr von mir, ich hör' doch nichts mehr, geht zu Lou!“ Alle lachen. Nur ich versuche verzweifelt, den Brand meines höllisch scharfen „Curry Chicken Massaman“ mit Singha-Bier zu löschen.

Die Nacht ist jung. Wir flanieren über den alten Broadway, der abgewetzten Prachtmeile von Williamsburg. Ein Zug donnert über uns hinweg. In den Ecken drücken sich Junkies und Stricher rum. Das Plakat am „Williamsburg Art & Historic Center“, einem verblichenen viktorianischen Juwel mit Kupferdach und Spitzbögen über den Fenstern, verheißt ein Konzert mit „Gothic Music“. Vier Frauen in wallenden Gewändern haben den ehemaligen Schalterraum der ehrwürdigen „Williamsburgh Savings Bank“ in eine Hüpfburg flatternder Polyesterhemden verwandelt. Celloklänge zerspratzen an Gitarrenwänden. Eine süßliche Marihuanawolke hängt schwer über unseren Köpfen. Die Sängerin springt mit Mikrophon in die Menge und tanzt Hüfte an Hüfte mit zwei Groupies. Derweil stehe ich mit Sandro, einem prominenten Mitglied von „Plexus Art Movement“, und Lynne, Grande Dame der Kleinkunst, an der Bar. Sandro hat sichtlich Mühe, den theoretischen Überbau seiner Bewegung auf den Punkt zu bringen. Lynne grient. Schließlich fährt Sandro sich durchs silbergraue Haar und verkündet in seinem unverwechselbaren sardischen Akzent: „Jetzt ist die Zeit, wo die Dinge passieren!“ Dazu ein Twist, der mir als echtem Fan von Travoltas Tanznummer in „Pulp Fiction“ heiße Tränen in die Augen treibt!

Es endet, wie es enden muß. David, stets auf die Pflege seiner keltischen Wurzeln bedacht, schmeißt eine Runde Guinness nach der anderen. Wir sind in der „Sweet Water Tavern“ auf der Sixth Street gelandet, einem Pub, der zwanglos hundert Jahre altes Schleiflack- Ambiente mit Anarcho-Punk- Rock verbindet. Hierher geht man spät und bleibt lange. „Meine Arbeitskollegen“, stellt David seine alten Gefährten aus Hausbesetzertagen vor, eine Bande tätowierter Harley-Ritter und kahlrasierter Schädel in Piratenhosen. Ich proste allen artig zu. Zum Tresen-Sieger küren wir Bär, den Mischling aus Labrador und Neufundländer. Er bleibt besonnen, behält den Überblick. Während der Rest von uns nach dem vierten Pint längst nicht mehr im Takt ist mit den „Dead Kennedys“ und mit dem Queue ungnädig im Filz des Billardtisches nach Kugeln stochert.

Am nächsten Morgen brauche ich meine Zeit und starken Caffè Latte. Im „Café L“ gibt's von allem reichlich. Freundlicher Service, ein Backgammon-Koffer, und Elvis haucht „Blue Moon“ in das raschelnde Papier meiner Waterfront Week, dem lokalen Underground- Magazin. Im Kummerkasten-Teil klagt „Barry So-White“ über seine Herkunft aus dem Mittleren Westen. Ob er trotzdem eine Chance bei den Frauen hier hat? Tante „Rula“, „Expertin für nichts, Ratgeberin für alles“, macht kurzen Prozeß mit dem Neuling: „Vergiß es!“

Nachmittags gehe ich ein bißchen bummeln auf der Bedford Avenue. „Max & Roebling“, die Boutique im SoHo-Stil, präsentiert Neuheiten im Sixties Outfit, „Beacon“ verkauft die Originale aus zweiter Hand. „Anna“ wirbt mit einem Modell-Foto für den modischen Acht-Dollar-Pagenschnitt, für das Vierfache macht „Mousey Brown“ gerade mal Henna ins Haar. „Futonz“, vertraut mit der Größe eines typischen Northside Apartments, hat nur einen Artikel im Angebot: Klapp-das-Sofa-aus- zum-Bett-und-zurück. Alina und ihr Mann Armand füllen Ölfarben direkt von der Tonne ab. „Weltneuheit!“ behauptet Alina. Armand zwinkert mir zu. Alina hat's gesehen. „Ehrlich“, schmollt sie. Vor wenigen Wochen hat „Anna Maria's“ aufgemacht, der vierte Pizza-Imbiß im Viertel und der erste, der bis 2 Uhr nachts geöffnet hält. Soviel Zeitgeist spricht sich rum!

In der Subway Station greift eine Western Lady mit Schlangenlederstiefeln zu ein paar Country Songs in die Saiten. Ich werfe ihr einen Quarter in den Schlapphut. Sie nickt mir zu, und schon schießt wie eine Muräne der L-Train aus dem Tunnel. Bis Manhattan ist es nur ein Stop. Aber, denke ich finster, was will ich eigentlich da?

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