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Literatur gildet nicht!

Für zwei, drei Sätze Aufmerksamkeit: Die Leipziger Buchmesse ist nicht mehr ein Ort der Lesungen, sondern ein Großflughafen für Texte mit viel Gerangel  ■ Von Jörg Magenau

Bertelsmann muß sparen. Die spätabendliche, gesponsorte Kartoffelsuppe im Journalistentreff „Paulaner“ sieht jedenfalls so aus. Ins „Paulaner“ kommen alle, die dazugehören wollen und die das Gefühl haben, nach einem langen Messetag das eigentliche Ereignis versäumt zu haben. Da das Eigentliche jedoch nie und nirgends stattfindet, ist es hier sehr spät sehr voll. Zehn verlorene Wursträdchen in einem großen Topf muß auch der bemängeln, der nicht undankbar sein möchte. Vielleicht hätte man ja geschwiegen, erschiene nicht die ganze Buchmesse ein wenig wie diese Kartoffelsuppe: ein großer Topf mit wenig Wurst. Vier Tage dauerte das Messegetriebe, tagsüber draußen vor der Stadt und abends dann endlich bei Lesungen und Empfängen im Zentrum, zurück in einer etwas wirklicheren Wirklichkeit. Doch auch draußen in der glasüberdachten Kunstwelt herrscht großes Gedrängel. Die Messeleitung hatte die Breite der Gänge in den Ausstellungshallen von drei auf zwei Meter minimiert und drei der fünf großen Hallen unbenutzt gelassen, damit es voller aussieht. Denn nur wo Gedrängel ist, ist Erfolg.

Lesungen, die in einem der „Foren“ stattfinden, sind so verloren wie kleine Kinder auf Großflughäfen. Immer wieder übertönen Lautsprecherdurchsagen das Grundrauschen. Dann müssen die Autoren ihre Texte unterbrechen, und alle hören statt dessen, daß Herr XY sich doch bitte am Informationsschalter in Halle drei einfinden soll. Literatur kann in dieser Atmosphäre nicht anders funktionieren als das abendliche Zappen am Fernsehgerät. Es ist ein Kommen und Gehen; zwei, drei Sätze hat ein Autor Zeit, die Aufmerksamkeit des Publikums zu erringen. Man könnte dies umherschweifende Interesse Flanieren nennen, wenn man ein wenig mehr Platz dazu hätte.

„Leipzig liest“ ist ein ziemlich hochgestochener Titel für dieses literarische Rauschen, das erst am Abend, bei Veranstaltungen in der Innenstadt, schärfere Konturen gewinnt. Es ist auch nicht Leipzig, das liest, sondern es sind die Leipziger, die lauschen, und meistens tun sie nicht mal das, sondern husten wie die Teufel und knistern erbärmlich mit ihren prallvollen Messetüten. Knapp 700 Autorenauftritte – das hört sich gut an. Ostthemen und Ostautoren stehen hier naturgemäß im Mittelpunkt. Wenn Christa Wolf den Materialienband zu „Medea“ vorstellt ist es ebenso brechend voll wie bei einer Lesung aus dem Heiner-Müller-Gedichtband oder bei Tschingis Aitmatow im Alten Rathaus. Bei der Rowohlt-Fete in Auerbachs Keller singt Harald Juhnke zur Feier seiner Autobiographie, aber der kann ja längst als Gesamtdeutscher durchgehen. Und Jürgen Serke zeigt den Ostlern, wo die Zukunft liegt: Er stellt sein Buch über „Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR“ in der Kundenhalle der Deutschen Bank vor; ein konsequenter Standpunkt, um über Haltungen in einem untergegangenen System zu sprechen.

Wer auf Messen nach Sinn sucht oder wer Botschaften ins Publikum übermitteln möchte, verwechselt das Ganze mit einem Kirchentag und hat damit nicht ganz unrecht. Swetlana Alexijewitsch zum Beispiel, die für ihr Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ den „Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ erhielt. Alexijewitsch ist spezialisiert auf Katastrophen und schreibt eine „Poetik des Tragischen“, so sie selbst. Sie schrieb über den Afghanistankrieg, dann über Selbstmörder und bereiste nun die Region um Tschernobyl, das nach wie vor ein „großes Geheimnis“ sei, nicht vergessen, aber auch nicht verstanden: „Nichts läge mir ferner, als Menschen einfach mit Grausamkeit zu überschütten. Ich bin eine Geisel der Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Mir geht es darum, einen Sinn in den Grausamkeiten zu finden.“ Solche Sätze sagt sie mitten im Messegetümmel: Sehr russisch, sehr religiös und ohne Angst vor Pathos.

Was aber, wenn sich Katastrophen vollkommen sinnlos ereignen? Alexijewitsch erzählt, wie in der Gegend von Tschernobyl „Häuser beerdigt“ werden. Sie habe beobachtet, wie ein Bagger ein Grube grub, um ein verstrahltes Haus darin zu versenken. Der Baggerführer habe ohne Schutzkleidung gearbeitet. Er sei dann ausgestiegen und habe sie gefragt, ob er nach dem, was er hier tue, noch einmal eine Frau liebe dürfe. Ob der Wunsch, Kinder zu haben, legitim sei. Doch während die Autorin zur großen, alles überwölbenden Frage ansetzt: „Was ist der Mensch?“ – übertönt eine Lautsprecherdurchsage jedes Wort.

Um Katastrophen anderer Art geht es bei Jürgen Fuchs. Es ist das Trauma der Haft, der „Zersetzung“, der „Bearbeitung“ durch die Staatssicherheit, das ihn nicht losläßt. Sein Rechercheroman „Magdalena“ taucht tief ein in diese Vergangenheit, die für Fuchs keine Vergangenheit werden kann. „Jetzt bin ich raus, jetzt kann ich erzählen wie es war, aber es läßt sich nicht erzählen“, heißt es in einem Gedicht, das kurz nach der Stasi-Haft entstand. Fuchs leidet immer noch darunter, daß sein Leid nicht kommunizierbar ist. Und je weiter es sich in einer vergangenen Epoche zu verlieren scheint, um so mehr wird er, das ewige Opfer, der hartnäckige Rechercheur, zur tragischen Gestalt. Einen Fotografen wischt er nervös beiseite: „Ich kann das nicht mehr aushalten.“ Einen anderen sieht er nicht: Ein dicker Messebesucher in häßlichem grünen Jackett und mit dem roten runden Gesicht eines Stasi-Hauptmanns, schiebt sich breit durchs Publikum, um sein Erinnerungsbildchen zu knipsen. Bei Fuchs kommt man auf solche Ideen: Vielleicht geht ja wirklich alles immer so weiter, und auch die Observierer können von der einstigen Identität nicht lassen.

Leichter, spielerischer nähert sich der Historiker Stefan Wolle der Vergangenheit. Sein neues Buch über „die heile Welt der Diktatur“ enthält ein Kapital über die „geteilte Sprache im geteilten Land“. Da geht es nicht nur um den allseits bekannten „Goldbroiler“, sondern auch um die verdienstvolle „Einzelpersönlichkeit“ – ein Begriff, der nur in Opposition zum Kollektiv sinnvoll war und deshalb nach 1989 unterging. Schade eigentlich, denn „Einzelpersönlichkeiten“ würde man auf der Buchmesse mit ihrer voyeuristischen Begierde auf „den Autor“ durchaus zu schätzen wissen.

Über die Rolle des Dichters wurde unterdessen auf einem Symposium der Deutschen Literaturkonferenz mit dem schönen Titel „Die Geltung der Literatur“ nachgedacht. „Sie gildet nicht!“ wäre man nach drei Messetagen bereit gewesen zu rufen, erfuhr hier aber doch: Sie gilt. In einem hohen, kathedralenhaften Raum im benachbarten Kongreßzentrum saßen zirka 30 Fachleute in idyllischer Abgeschiedenheit. Da referierte Ulrich Greiner über den tanzenden Betrieb und kam zum tröstlichen Resüme, daß „Literatur von dem, was wir Betrieb nennen, unberührt“ bleibt: „Das Nicht-Lesen der großen Werke schadet nicht der Literatur, sondern uns.“ Und Michael Rutschky, alles andere als ein Lyrikexperte, sprach über Lyrik und gab mit seinen Thesen vom Ende des Interpretationszeitalters („No more Verständnis!“) und von zeitgemäßer Lyrik als MTV-Clip souverän den Konsensknacker. Der gern zitierte Gernhardt-Zweizeiler: „Mein Gott ist das beziehungsreich / Ich glaub', ich übergeb' mich gleich“ entfaltete da wieder einmal seine unwiderstehliche Geltung.

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