: Reise ins Ich – Reise ins Nichts
■ Der ehemalige KZ-Häftling Imre Kertész, heute im Literaturhaus, forscht nach der eigenen Identität
Ein Mann auf der Suche. Die knappen Notate von Imre Kertész aus den Jahren 1991 bis 1995 zeigen einen Schriftsteller, der beides ist – ein „Fremder in der Welt“, aber auch sich selbst ein Fremder. Ich – ein anderer lautet der Titel des schmalen Buchs in Anlehnung an das berühmte „Ich ist ein anderer von Arthur Rimbaud. Kertész' Variation dieses Satzes lautet: „'Ich' ist eine Fiktion, bei der wir bestenfalls Urheber sind.“
Der 1929 in Budapest geborene Kertész hat sich mit seinen Büchern über seine Häftlingszeit in Auschwitz und Buchenwald, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind und Roman eines Schiksallosen, als brillanter Erzähler erwiesen. Seine Erfahrungstexte verstören, weil ihr Autor darin vom „Glück der Konzentrationslager“spricht. Schicksallos nennt Kertész jene Menschen, die einem totalitären Herrschaftssystem anheimfallen, das sie ihrer individuellen Entscheidungsfreiheit beraubt – so wie er selbst: „Ich bin das unverbesserliche Kind von Diktaturen, meine Besonderheit ist das Gebrandmarktsein. Es ist meine unerklärlichste, zugleich aber wahrhaftigste Erfahrung unter den Menschen.“
Als einer dieser Schicksallosen erlebt er nicht nur das Befreiungsjahr 1945, sondern auch die Zäsur von 1989 als Einschnitt und versucht zu begreifen, was das für ihn bedeutet.
Auch in Ich – ein anderer setzt Kertész die unerbittliche Konfrontation mit seiner Schicksallosigkeit fort. Der Leser wird zum Begleiter des Reisenden und zu seinem Zuhörer, etwa in Buchenwald: „Es lohnt sich manchmal, jene Schauplätze, wo die entscheidenden Ereignisse unseres Lebens stattfanden, wieder aufzusuchen, um zu erfahren, daß wir nichts mit uns selbst zu tun haben.“
Der Autor ist stets auf Distanz zu sich selbst. „Warum fühle ich mich so verloren? Offenbar weil ich verloren bin.“Am Ende seines Lebens trifft ihn die Freiheit – und er fragt sich, ob gerade das Leben unter der Diktatur die Tiefe seines Schreibens erzeugt hat. Kertész nüchtern: „Ich habe den Moment zum Handeln verpaßt, bin bloßer Wächter und Zeuge.“
In seiner Selbstbefragung hält er fortwährend Zwiesprache mit jenen Autoren, die er ins Ungarische übersetzt hat, mit Wittgenstein, Kafka oder Joseph Roth, um sogleich darauf zu beharren: „Jedes Verstehen ist Mißverstehen.“Bedrängende Fragen stehen neben fragmentarischen Kindheitserinnerungen, Aphorismen neben Eindrücken von Lese- und Urlaubsreisen. Ich – ein anderer, das sind versuchte Annäherungen an Unfaßbarkeiten wie Glück und Tod.
Könnte die Freiheit die lebenslängliche Erfahrung des Gebrandmarktseins überbieten? Der fragensüchtige Kertész bedrängt sich mit möglichen Antworten, als stecke in begrifflicher Klarheit ein wenig Trost. Die Reflexionen machen seine Lebenskräfte sichtbar: Das Schreiben, das zugleich Denkanstrengung ist und die starke Produktivkraft Distanz. Sein und Schreiben markieren die beiden Pole seiner Existenz: „Ihr verlangt doch nicht, daß ich meine nationale, konfessionelle und rassische Zughörigkeit formuliere? Ihr verlangt doch nicht, daß ich eine Identität habe? Ich verrate euch: Meine einzige Identität ist die des Schreibens. Wer ich sonst bin? Wer wüßte es?“
Frauke Hamann
Imre Kertész: „Ich – ein anderer“, Rowohlt Berlin, 127 S., DM 29,80.
Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus (Schwanenwik 38)
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