: „Ganz unbegreifliche Sachen“
Medizinhistorisches Museum der Charité eröffnet. Den Anfang macht die pathologische Sammlung. Doch Zyklopen und Tumoren bieten dem Besucher keinen erfreulichen Anblick ■ Von Ralph Bollmann
In Peter Krietschs Zimmer hängt ein Foto des Deutschen Medizinhistorischen Museums in Ingolstadt. Daß es ein solches Museum nicht auch in Berlin gibt, einem „Weltzentrum der Medizin“, das wurmt den Leiter der Pathologischen Sammlung an der Charité schon lange. Seit dem Fall der Mauer arbeitet er daran, daß medizininteressierte BerlinerInnen nicht mehr nach Ingolstadt fahren müssen. Ein erster Schritt ist jetzt getan: Seit gestern steht die erste von geplanten fünf Etagen des Medizinhistorischen Museums der Charité dem Publikum offen.
Daß just die Pathologische Abteilung den Anfang macht, liegt in der Geschichte des Gebäudes begründet, das Rudolf Virchow am 27. Juni 1899 als Pathologisches Museum mit 23.600 Exponaten eröffnete. Im Zweiten Weltkrieg wurden jedoch die Institutsgebäude schwer beschädigt, die meisten Glasbehälter zerbarsten schon durch die Druckwellen. 2.000 Objekte waren nach Kriegsende noch übrig.
Zu DDR-Zeiten wuchs die Sammlung wieder auf 9.000 Ausstellungsstücke an. Ein Teil davon war seit 1981 dem Publikum zugänglich. Allerdings nur in 60 Vitrinen auf den Fluren des Instituts, denn die großen Ausstellungssäle mußten beim Wiederaufbau kleinen Büros weichen. Allein die Ruine des Hörsaals, in dem Virchow seine letzten Vorlesungen hielt, blieb unangetastet. Seit 1994 von Gerümpel befreit, ist sie nun Bestandteil des Museums, das sie auch für Veranstaltungen vermietet. Bei der Auswahl der Mieter schaut Krietsch aber etwas genauer hin, seit sich bei einer Techno-Party „die Präparate um 180 Grad gedreht haben“. Jetzt will er nur noch „seriöse Veranstaltungen“ zulassen, denn „dies ist ein Haus des Schweigens“.
Um medizinische Information, nicht um das Gruseln ist es Krietsch zu tun. Deshalb wird es die bisherige Ausstellung „Die Welt des Monströsen“ in ihrer bisherigen Form nicht mehr geben. Statt dessen füllen die mißgebildeten Säuglinge nur noch eine von vielen Vitrinen. Virchow selbst hatte „jene ganz unerhörten und unbegreiflichen Sachen, welche gelegentlich am Menschen entstehen“, überhaupt nicht öffentlich ausgestellt. Sie werden wohl auch im neuen Museum eine der Hauptattraktionen bleiben, eine Sonderausstellung über die Bezüge zur Mythologie ist geplant. Daß es sich beim Mythos von der Schönheit der Sirenen um eine „künstlerische Übertreibung“ handelt, wie ein Schild in der Vitrine verrät, kann der Besucher beim Anblick der beinlosen Säuglinge nur bestätigen. Auch von einäugigen Menschen liest er lieber bei Homer, als sie in Alkohol schwimmend vor sich zu sehen.
Einen erfreulichen Anblick bieten auch die Exponate in den übrigen Vitrinen nicht. Von Tumoren zerquetschte Hirne reihen sich an tuberkulös-poröse Lungen, hühnereigroße Gallensteine an wuchernde Knochenmasse. Einen riesenhaft aufgeblähten Darm entnahmen die Pathologen einem Patienten, der an der „Hirschsprungschen Krankheit“ verschied, einem „Kotstau durch Unterbrechung der Nervenversorgung eines Darmabschnitts“. Geradezu harmlos wirkt dagegen das Herz eines Selbstmörders, in dessen Spitze noch immer das tödliche Projektil steckt.
Die Präsentation folgt, von den Mißbildungen über die Innereien zu den Knochen, einer Dramaturgie des abnehmenden Grauens. Ausruhen kann sich das Auge dann an den Zeugnissen des Virchow-Kults – seiner Totenmaske, seinem schlichten Schreibtisch und seiner Marmorbüste, die der preußische Staat dem Altliberalen 1901 zu seinem achtzigsten Geburtstag schenkte. Sie steht im Mittelpunkt des Saals, wie überhaupt das ganze Museum im Zeichen Virchows, den Krietsch als „einen der universellsten Gelehrten der Geschichte“ preist. Der erste Ausstellungsraum mit den rund 1.000 pathologischen Exponaten sieht beinahe wieder so aus wie zu Virchows Zeiten. Die Zwischenwände sind entfernt, die Säulen wieder freigelegt, die erhaltenen Originalvitrinen restauriert und neu verglast. Krietsch hofft, bis zum 100jährigen Museumsjubiläum im Juni nächsten Jahres ein weiteres Stockwerk herrichten zu können. Aus dem Etat der Charité sind solche Pläne aber nicht zu finanzieren. Deshalb wirbt Krietsch um Sponsoren, die sich dann auf einem Messingschild in der Hörsaalruine verewigen dürfen.
Geht es nach Krietsch, sollen eines Tages wie zu Virchows Zeiten wieder alle fünf Stockwerke als Museum dienen. Als Museum nicht nur der Pathologie, sondern der gesamten Medizin „von A wie Anatomie bis Z wie Zahnheilkunde“. Vielleicht müssen ja die IngolstädterInnen eines Tages nach Berlin fahren.
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