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Boris Jelzin schweigt beredt

Der russische Präsident will im Jahr 2000 nicht noch einmal antreten. Zur Kandidatur von Tschernomyrdin macht er keine eindeutige Aussage  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Während des Treffens mit UN- Generalsekretär Kofi Annan in Moskau gab Gastgeber Präsident Boris Jelzin bekannt, zu den Präsidentschaftswahlen im Sommer 2000 wolle er nicht mehr antreten. Fragen, ob er bereits einen Favoriten auserkoren habe, beantwortete der Kreml-Chef ausweichend: „Könige haben Nachfolger, aber nicht wir. Es ist das Volk, das wählt.“

Am Sonnabend hatte der vor einer Woche entlassene Premierminister Wiktor Tschernomyrdin auf einer Sitzung der politischen Vereinigung „Unser Haus Rußland“, mehr Sammelbecken der Funktionselite als eine Partei, seine Präsidentschaftskandidatur öffentlich angekündigt. Der Kreml ließ sich bis gestern Zeit, um die Absicht des ehemaligen Regierungschefs zu kommentieren. Boris Jelzin vermied es auffallend, dem neuen Präsidentschaftskandidaten eindeutige Unterstützung zuzusichern. „Wir brauchen eine starke Führungsfigur. Ziehen wir in Betracht, daß ich, so wie es ist, nicht an den Wahlen teilnehme, sind Verstärkungen erforderlich.“ Jelzin schwieg auch, ob Wiktor Tschernomyrdin seine Kandidatur vorher mit ihm abgestimmt hatte. Statt dessen formulierte der Präsident vorsichtig, das Vorhaben „fällt nicht aus dem allgemeinen Rahmen unserer Politik heraus“. Die außerordentlich vorsichtige und unpersönliche Formulierung legt nahe, daß der Kreml-Chef zur Zeit nach einem neuen Nachfolger Ausschau hält.

Tschernomyrdins Hausmacht, der Gaskonzern Gasprom, hielt sich bisher ebenfalls zurück, dem einstigen Chef des Unternehmens unzweideutig zu Hilfe zu eilen. Offensichtlich wartet die Konzernführung ab, welche Entscheidungen im Kreml getroffen werden, bevor sie sich hinter Tschernomyrdin stellt. Unbestritten ist, daß der finanzstarke Energiekonzern lieber mit dem ehemaligen Regierungschef in die Wahl ginge als mit einem neuen, unerprobten Kandidaten. Doch allein das Zögern belegt, wie verunsichert die politische und wirtschaftliche Elite Rußlands zur Zeit ist.

Jelzin ließ es sich auch nicht nehmen, noch einmal darauf hinzuweisen, daß selbst Tschernomyrdins Vorhaben erst möglich wurde, nachdem der Präsident die Regierung entlassen habe. „Wenn er sagt, er hätte die Entscheidung getroffen, so ist das nicht ganz der Fall. Ich war es, der die Regierung entlassen hat“, stellte Jelzin klar.

Unterdessen ernannte der Kreml Justizminister Sergej Stepaschin zum Interims-Innenminister. Der 46jährige ist kein politischer Neuling. Er gehörte zu den führenden Kräften der „Kriegspartei“ im Kreml, die 1994 den blutigen Feldzug Moskaus gegen die abtrünnige Republik Tschetschenien mit aller Härte betrieben und einem Friedensabschluß bewußt entgegengearbeitet haben. Durch seinen Wechsel ins Innenministerium wird die Reformpolitik, wie es Jelzin noch in Aussicht gestellt hatte, mit Sicherheit nicht dynamischer. Am Freitag dieser Woche muß das russische Parlament den von Jelzin ernannten Interims-Regierungschef Sergej Kirijenko bestätigen.

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