Vom Massaker zum Mythos

■ Mythen der Nationen im Metropolis: nationale Identitätsstiftung auf der Leinwand

Der Mythos: Claude Lévi-Strauss nannte ihn eine imaginäre Lösung für ein real existierendes Problem, und Roland Barthes bezeichnete ihn als Sprache, die es zu entziffern gilt. Auf jeden Fall ein Konzept, das zwar nicht physisch greifbar ist, aber nichts von seiner Bedeutung verloren hat. Ähnlich ist Nation ein Begriff, der weniger eine objektive Tatsache als vielmehr ein gedankliches Konstrukt beim Namen nennt. Und doch haben beide eine tiefgreifende, keineswegs immer friedliche Rolle im Zusammenleben der Menschen gespielt.

Grund genug, den „Mythen der Nationen“nachzuspüren, wie dies derzeit das Deutsche Historische Museum in Berlin mit einer Ausstellung tut. Während Nationen traditionell ihre Mythen im Genre der Historienmalerei ausgedrückt haben, übernahm in diesem Jahrhundert zunehmend das Kino die Funktion, für ein geographisches Gebiet oder eine bestimmte Bevölkerungsgruppe eine Identität zu konstruieren. Grund genug für das Berliner Zeughauskino, diesem Thema eine umfassende Filmreihe zu widmen, aus der das Metropolis eine Auswahl zeigt.

Die Idee der Nation ist gerade einmal 200 Jahre alt und fand ihren ersten echten Ausdruck mit der Französischen Revolution. Seither hat sich der Nationalstaat als herrschende Organisationsform durchgesetzt und muß sich stets aufs Neue legitimieren, da die Bürger ja angeblich souveräne und aufgeklärte Individuen sind. Dazu werden immer wieder Gründungs- und Krisenmomente beschworen, in denen sich der Einzelne meist für das Wohl des Größeren opfern muß. Solchen Menschen errichtet man dann hinterher ungefragt Denkmäler. Wenig überraschend spielt deshalb der Krieg bei der Schaffung nationaler Mythen eine Schlüsselrolle.

Daß der Film diesen Nationalismus auch zersetzen kann, zeigt Carlos Sauras Die Jagd, der schon vor Drehbeginn mit der Zensur des Franco-Regimes in Konflikt geriet. Vier Männer gehen auf einem ehemaligen Schlachtfeld des Bürgerkriegs auf die Jagd, übrigens auch Francos liebste Freizeitbetätigung, und allmählich eskalieren die Beziehungen untereinander zu einem blutigen Showdown. Eine karge Landschaft, unterdrückte Aggressionen und kaum vernarbte Erinnerungen der Kriegsveteranen tragen zu einer paranoiden Stimmung bei, die auch darin Ausdruck findet, daß stets vom Krieg die Rede ist, der Spanische Bürgerkrieg aber als Tabuthema des Franco-Reichs nie beim Namen genannt wird.

Nur wenige Nationen können sich auf so viele Kriege in ihrer Mythologie beziehen wie Großbritannien. Laurence Oliviers Henry V. entstand 1943 am Scheitelpunkt des Zweiten Weltkriegs und beschwor in der Rede an die Soldaten vor dem Übersetzen nach Frankreich den Mythos der britischen Einheit angesichts der kontinentalen Übermacht. Genau diesen Mythos der friedlichen Einigkeit des großbritannischen Königreichs zerstört Culloden aus dem Jahr 1964, indem der Film die gewaltsame Unterwerfung der Schotten durch die Engländer zeigt. Noch weiter geht der ebenfalls 1964 entstandene It Happened Here, in dessen fiktivem Szenario die Nazis das Inselreich erobert haben und sich die Engländer sehr wohl als zum Faschismus fähig herausstellen.

Es gibt verschiedene Arten der Mythendarstellung, am gängigsten war bisher die offizielle Jubel-Version der eigenen Geschichte. Ein aktuelles Beispiel für eine solche inzwischen leicht anachronistische Staatskunst ist Der Opiumkrieg. Anhand der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem feudalen China und dem kolonialen England im 19. Jahrhundert werden die Verfehlungen beider Systeme aufgezeigt. Die entstehende Leerstelle ist natürlich dem wiedererstarkten chinesischen Nationalbewußtsein zugedacht: Der Film hatte am 1. Juli 1997, dem Tag der Übergabe Hongkongs an China, zeitgleich in Peking, Hongkong und London Premiere.

Am subversivsten geht wohl Bernardo Bertolucci in Die Strategie der Spinne mit der Dekonstruktion offiziellen Heldengedenkens um. Der Sohn eines gefeierten Widerstandskämpfers geht den Spuren seines Vaters nach und entdeckt dabei, daß dieser eigentlich ein Verräter war, der seinen eigenen Tod inszenierte, um selber zum Mythos zu werden. Die Strategie bezieht sich dabei ebenso auf die unterschiedlichen Pläne der Figuren wie auf die Erzählstruktur des Films, die sich jeder Selbstmythisierung verweigert.

Kein deutscher Film läuft in der Reihe, und man mag entgegnen, daß die Nazis jede offene Art der Heldenstilisierung für immer unmöglich gemacht haben. Am Beispiel des Regisseurs Joseph Vilsmaier – von Rama Dama über Stalingrad bis zu Comedian Harmonists – ließe sich das Gegenteil demonstrieren: daß auch scheinbar um authentische Details bemühte Geschichtsdarstellungen fragwürdige Ergebnisse hervorbringen können.

Malte Hagener

Die Jagd: 2.4, 17 Uhr; 3.4. 21.15 Uhr; 4.4., 17 Uhr; 5.4., 17 Uhr. Die Strategie der Spinne: 6.4., 21.15 Uhr ; 7.4. 17 Uhr; 8.4., 21.15 Uhr; 9.4., 17 Uhr. Der Opiumkrieg: 13.4., 17 Uhr; 14.4., 21.15; 15.4., 17 Uhr. It Happened Here: 16.4., 17 Uhr; 17.4., 17 Uhr; 19.4., 21.15 Uhr Uhr. Culloden: 21.4., 21.15 Uhr; 22.4., 19 Uhr; 3.4., 17 Uhr. Henry V.: 28.4., 19 Uhr; 29.4., 17 Uhr; 30.4., 21.15 Uhr. Alle Filme laufen im Metropolis-Kino.

Vortrag: Dr. Rainer Rother, Leiter des Berliner Zeughauskinos, spricht am 8.4. um 20 Uhr im Filmhaus in der Friedensallee 7.