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Bonus für Senioren

Trotz gleicher Initiale – Jarvis Cocker ist nicht Jesus. Aber mit dem Pulp-Album „This is Hardcore“ erneuert er das Vertrauen in die Verführungskräfte des Pop  ■ Von Oliver Fuchs

Schon wieder haben die Böen, die in Hamburg mit Windstärke 10 über die Außenalster fegen, einen Surfer versenkt. Joggern fliegt Sand in die Augen, ein alter Mann hält seinen Hut fest. Fahrrräder kommen vom Kurs ab. Im Zimmer aber Stille. 20 deutsche Journalisten schauen mit großen Augen einen Engländer an, als hätte er diese Sorte Wetter mitgebracht.

Jarvis Cocker verhält sich ruhig bei Kaffee und Kuchen und Pressekonferenz unter der Stuckdecke des Literaturhauses Hamburg. In einem Hochglanzhandzettel wirbt die Institution, man könne dort vorzüglich Bücher kaufen, essen und trinken und zudem „schöne Räume beleben“. Genau das tut Cocker: Ein paar Momente lang belebt er einfach nur diesen Raum. Er ist ein Mann mit einem großen Kopf, schmalen Schultern, schlingerndem Gang, und er schnuppert mehr an seiner überlangen Zigarette, als daß er sie ernsthaft raucht. Das kommt daher, daß er sie wie eine langstielige Rose zwischen seinen Fingern balanciert.

In Deutschland kann und mag man sich die Faszination, die Cocker ausstrahlt, nicht recht vorstellen. Wer aber je bei einem Pulp- Konzert in beispielsweise Barcelona in der Südkurve stand und Zeuge wurde, wie aufgewühlte englische Ausstauschstudentinnen und -studenten ihre Unterwäsche auf die Bühne werfen, beginnt zu begreifen. Noch eindrucksvoller war die Geste, mit der Cocker die Höschen – zweifellos dankbar, doch sehr beiläufig – zum Schweißabwischen verwendete. Das war 1995, als „Common People“ erschien, das insgesamt siebte, aber erst das zweite kommerziell erfolgreiche Album von Pulp: Kulminationspunkt eines 15 Jahre dauernden Ringens um Aufmerksamkeit.

Jarvis Cocker – der Mann, der in den Morgenstunden der Achtziger klein angefangen hat, als Anführer der Sheffielder Schülerband Arabicus Pulp, die sich nach einer Kaffeebohne benannte und bereits zehn Jahre vor dem Revival in Siebziger-Jahre-Sakkos auftrat – war am Ziel seiner Träume. Er, dessen Wirken bis kurz vor Mitte der neunziger Jahre selbst aufmerksamen Beobachtern des Popbetriebs verborgen geblieben war, mußte plötzlich im „Gorillakostüm herumlaufen, um unerkannt zu bleiben“. Eine Filmpremiere ohne ihn war quasi keine. Sogar Supermodel Kate Moss trug ein T-Shirt, auf dem stand „Jarvis is Jesus“.

Auf der neuen Pulp-Platte dementiert Jarvis Cocker gleich in der Ouvertüre zum zweiten Stück, daß er Jesus Christus ist: „I'm not Jesus though I have the same initials. I'm the one who stays home and does the dishes.“ „This is hardcore“ heißt das Werk, das nur auf den ersten Blick auf einen Platz in der Pornoabteilung des Plattenladens spekuliert. Auf dem Cover ist der Oberkörper einer viel zu blonden Frau zu sehen, nackt, die Ellenbogen in eine rotglänzende Ledercouch gestemmt. Mund offen, weggetretener Blick. Grausig! Die Schockästhetik korrespondiert mit Cockers Pressegesprächen, wo er stets Fragen des Altwerdens und Sterbens in den Mittelpunkt rückt. Es klingt wie ein Witz, wie eine weitere Kauzigkeit, wenn er mit 34 so etwas sagt.

Von der Arbeiterklasse eine aufs Maul kriegen

Eine Art Untergang wird auf „This is Hardcore“ öfter angekündigt. Im Eröffnungsstück deklamiert Cocker noch relativ gelassen „Oh baby, here comes the fear again, the end is near again“, mittendrin wird es deutlich sinistrer, und im letzten Stück ist das Ende dann auch schon wieder vorbei. Die allerletzten Zeilen versinken in einem Murmeln, wie es alte Leute bei der Hausarbeit gern an den Tag legen: „The future is over / Sheffield is over / The fear is over / Guilt is over / The breakdown is over / Irony is over / Bah-bye.“ Daß Ironie wirklich over ist, erfuhr die Band, als ihre im Herbst veröffentlichte Single „Help the Aged“ von einer Senioren-Wohltätigkeitsorganisation wegen Namensgleichheit beanstandet wurde. „Help the Aged“ ist unser Slogan, hieß es, und Pulp müßten daher ein paar Prozent der Verkaufserlöse an den Verband abführen. „Aber wir dachten eh daran, die Platte für Rentner billiger zu machen. Da kam uns das gerade recht.“

Genausowenig wie „Common People“ eine Platte über die Arbeiterklasse war – für deren Belange sich Cocker laut eigener Auskunft auch gar nicht zuständig fühlte, nachdem er oft genug von deren Vertretern eine aufs Maul bekommen habe –, ist „This is Hardcore“ eine Platte über die Alten. Wie solidarisch Pulp sich wirklich mit Ruheständlern fühlen, wie alt Jarvis Cocker ist und wie nah er sich dem Tod fühlt, geht unsereinen eigentlich nichts an. Wissen möchte man es natürlich trotzdem, zumal wenn die Band das Thema Alterselend aus freien Stücken selbst auf die Tagesordnung setzt. Aber man soll seinen Popstars nicht alles glauben, sind sie doch von Berufs wegen dazu verpflichtet, mit jeder neuen Platte Imagekorrekturen vorzunehmen, die bis zur völligen Imageüberholung reichen können. Blur haben es so gemacht, und es wurde ihnen gedankt. Radiohead haben es gemacht – und viele waren entzückt. Oasis haben es nicht gemacht, sondern sich einfach hingestellt und gesagt: Wir sind's wieder.

Regisseur eigener Pornophantasien

Und prompt ging das Gemurre los. „Oasis klingt nach Wüste“, findet jetzt sogar die Petra, aber „Pulp – das poppt“. Irgendwie ein aufregender Gedanke, daß ein schmierig-schönes Stück wie „This is Hardcore“, mit seinen obszönen Bläsern und voluminösen Streicherarrangements, jetzt auch Pop sein soll. Erst nach radiounfreundlichen einer Minute 40 Sekunden setzt so etwas wie ein Gesang ein. Cocker phantasiert sich und das geliebte Gegenüber in eine Pornoszene, deren Regisseur er zu sein vorgibt. „Don't make a move til' I say ACTION.“ Als Refrain gibt es einen Ausruf, halb Selbstanfeuerung, halb knallbuntes Versprechen, für das man sich, wie im Pop üblich, mal wieder nichts kaufen kann: „Here comes the hardcore LIFE!“ Schließlich ist es Pulp. Und Pulp heißt Trash, und wenn Pulp „Leben“ sagen, dann meinen sie destilliertes Leben. Da sind die langweiligen Stellen bereits abgezogen.

Wo Pulp ist, sind die Themen der Stimmungslyrik des 19. Jahrhunderts nicht weit. Allerdings gebrochen, weil der englische Boy in der Wirklichkeit statt des Liebesideals nur wechselnde, für ihn unvorteilhafte sexuelle Konstellationen antrifft. Diese Erfahrung führt zu einem Stubenhockertum in höchster Potenz. Sobald jedoch eine Bühne in Reichweite ist, setzt er sich ausschweifend sexy in Szene. Als Frau, als Mann, als Dandy und Faun, verführerisch und verführbar zugleich. Die Begehrensmaschine läuft und spuckt, je nach Laune, reaktionäre und emanzipative Ergebnisse aus.

Als die Nation 1995 vor der Frage Blur oder Oasis stand, sich also zwischen ironischem Kunsthochschulpop und schweißechtem Ausdrucksrock entscheiden mußte, sah es zunächst nach einem Unentschieden aus, dann nach einem Sieg des letzteren. Nach mehreren Quartalen im Rockwärtsgang ist nun klar, daß es so weder vorwärts noch rückwärts geht. Das Album von Pulp weicht der Frage „Authentizität oder Ironie?“ geschickt aus, indem es beides haben will. Kunststudenten, die sie sind (oder waren), gehen sie den cleveren, den Roxy-Music-Weg. Der da heißt: Sei ein Produkt, lächle künstlich, aber verliere nie deinen Sinn für Romantik. Mit Pulp feiert dieser Typus des Kunststudenten, Subjekt von gleich zwei Revolutionen der Siebziger, Glam und Punk, sein rauschendes Comeback.

Comeback des Kunststudenten

„This is Hardcore“ ist das Showmännischste und auch das Souveränste in der Geschichte der Band, mehr Las Vegas, Varieté und große Gesten als in früheren Zeiten, als die Band – metaphorisch – noch mit der Fish-and-chips-Tüte in der Hand in Sheffielder Striplokalen herumlungerte. Geblieben ist eine Freude am Entdecken und Neuausstaffieren von Glam-Pop.

Prinzipiell ist ihnen der David Bowie der Weltraumphase aber genauso lieb wie führende Vertreter des cheesy listening. Man denke nur an Barry White, den dicken Soulschlagersänger mit Schmalzlocke, der immerzu brummt, wie easy alles ist, speziell die Liebe. Von ihm hat sich Cocker wohl dieses Seufzen und Gurren, diese Uuhhhs und Oohhhs abgehört. Der Unterschied besteht darin, daß Barry White seufzt, weil die Liebe so angenehm ist, und Cocker, weil er sie auf beänstigende Weise kompliziert findet. In den meisten erotischen Szenarien, die er beschreibt, kommt sein lyrisches Ich bloß als zwanghafter Beobachter vor, der im günstigsten Fall Ratschläge geben darf. Ein anderer Einfluß waren die Walker Brothers, die Klageband im Pop schlechthin: „Ich hielt das zuerst für sülziges Balladenzeugs. Bis ich einen Weg fand, an der Sülze vorbeizukommen. Popmusik mit Orchester fand ich komplett daneben, bis ich zum ersten Mal die Walker Brothers hörte. So wie die das anstellten, hatte es etwas mit dem Leben zu tun.“ Orchesterpop, mit diesem Wort sind Pulp gut charakterisiert. Das Besondere ist, daß ihre Art, groß zu klingen und groß zu fühlen im hitfähigen kleinen Format – als Song, als Kurzgeschichte, als morality tale über die Fallstricke englischen Kleinstadtlebens –, erst recht dieses luxuriöse, opulente und im Wortsinne wahnsinnig extravagante Flair entfaltet.

Paradoxerweise ist es eine Platte, die, während sie mit Pop eigentlich Schluß machen will, erst recht das Vertrauen in seine positiven Verführungskräfte weckt. An manchen Stellen klingen Pulp, als hätten sie wirklich keine Lust mehr auf Songwriting, als wollten sie lieber sphärische Instrumentalmusik machen wie das Nouvelle-Electronique-Duo Air, dessen „Moon Safari“ Cockers neue Lieblingsplatte ist. Die ruhigeren Stücke auf „This is Hardcore“ möchte man, genau wie die Air-Soundfahrten, nicht nur hören, sondern um sich haben und am ganzen Körper spüren.

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