■ H.G. Hollein: Zartbitter
Die Frau, mit der ich lebe, partizipiert gern. Jedenfalls nennt sie das so. Ich nenne das Schnorren. Kaum liege ich einmal entspannt mit einem Buch auf dem Bett, räkelt sich die Gefährtin auch schon wie beiläufig an meiner Seite. „Was liest du denn da?“lautet die heuchlerische Eröffnunsgfrage, während die Augen unverhohlen lüstern an der aufgerissenen Tafel Schokolade auf meinem Bauch Maß nehmen. Ich weiß ja, daß die Ernährungsforschung diesem Kakaoprodukt die Ausschüttung Glücksgefühl-steigernder Endorphine beimißt. Mir ist nur nicht einsichtig, warum die zur oralen Erfüllung raupenartig vorgetragene Attacke ein Vakuum in der Verpackung oder ungünstigstenfalls ein paar traurige Schokoladensplitter zwischen den Falten meines Hemdes hinterlassen muß. Es hilft auch nichts, wenn ich einStückchen von einem Riegel abbreche und es der Gefährtin freiwillig offeriere. Statt Dank ernte ich nur fauchende Vorhaltungen über meine frühkapitalistische Abspeisungsmentalität oder – und das trifft tief – mir wird ein nicht kompensiertes wölfisches Einzelkindtrauma attestiert. Aber ich kann nun einmal in diesem nach gehabtem Genuß geflöteten „Oh, schon alle!“nicht den Charme des Naiven erblicken, sondern nur die Ruchlosigkeit einer terzerolbewehrten Wegelagererin. Unlängst erhielt ich jedoch einen hoffnungverheißenden Hinweis von einer Kollegin der Gefährtin, deren Schreibtischschublade ebenfalls Einfallsgebiet regelmäßiger Plünderunsgzüge ist. Die Substitution von Vollmilch durch Bitterschokolade habe zwar zu einer gewissen zwischenmenschlichen Entfremdung geführt, sei jedoch als bestandswahrende Maßnahme von geradezu phänomenaler Wirksamkeit. Ich weiß jetzt, was das heißt. Seit meinem Hinweis, daß selbst bei einem hauchdünnen Plättchen mit 80prozentigem Kakoanteil endorphinmäßig die Post erst so richtig abginge, werde ich bei den Freundinnen der Gefährtin als sadistischer Zyniker gehandelt. Da mir weder die Gefährtin noch mein Ruf gleichgültig sind, habe ich einen Freund in England um regelmäßige Beschickung mit Cadburys 1,5 Kilo-Vollmilchtafeln im Keyboard-Ausmaß gebeten. Danach ist uns zwar regelmäßig beiden schlecht, aber zumindest liegen wir uns wieder genußvoll tröstend in den Armen.
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