Wenn Jelzin seine Abgesandten schickt

Der neue Bürgermeister von Nischni Nowgorod an der Wolga war ganze drei Tage im Amt, dann wurde er offenbar auf Moskauer Weisung abserviert. Die Bürger sind empört und teilen Ohrfeigen aus  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Nur für drei Tage bekam die anderthalb-Millionen-Stadt Nischni Nowgorod an der Wolga letzte Woche einen neu gewählten Bürgermeister. Andrej Klimentjew (44) hatte den Nowgorodern dasselbe versprochen wie alle anderen Kandidaten auch. Aber im Gegensatz zu seinen bürokratischen Konkurrenten tat er es mit dem saftigen Wortschatz eines schweren Jungen. Kurz nach seinem Sieg erklärte die Wahlkommission der Wolgastadt das Ergebnis der Gemeindewahlen für ungültig. Am 1. April wanderte Klimentjew hinter Gitter, nicht zum ersten Mal.

Vor das Kreisgericht zog unterdessen eine wütende Menge Nowgoroder BürgerInnen. Auf ihrem Wege ließen sie einige hohe Beamte den Volkszorn in Form von Watschen spüren. Wer für den Ex- Werftbesitzer Klimentjew stimmte, tat dies in der Regel aus Trotz — gegen die örtliche Bürokratie und das Moskauer Zentrum.

Noch zu Sowjetzeiten war Klimentjew wegen Pornohandels zu acht Jahren verurteilt worden. Im Lager erhielt er den Ehrennamen „Pickel“. Wieder frei, nutzte er pfiffig die Perestroika für Geschäfte. Mit dem Gewinn sponsorte er unter anderem den Gouverneurswahlkampf seines Freundes Nemzow. Doch im April letzten Jahres verurteilte man ihn dann erneut zu 18 Monaten Freiheitsentzug — wegen Unterschlagung eines für sein Werft-Joint- venture bestimmten Millionen- Dollar-Kredites. Peinlich für Nemzow! Er hatte als als Gouverneur den Kredit des russischen Finanz- ministeriums vermittelt.

Klimentjew verließ den Gerichtssaal guter Dinge. Er konnte die Strafe schon in der Untersuchungshaft absitzen. Am ersten April hat nun das Gericht diese Entscheidung revidiert. Davor muß einiges passiert sein. Klimentjews Anwälte schwören: Im Beisein des aus Moskau geschickten Jelzin-Bevollmächtigten Jewgenij Sewastijanow wurde Klimentjews Richter Popow per telefonischer Direktschaltung vom Kreml „bearbeitet“. Erst recht fadenscheinig erscheinen die Argumente der Wahlkommission. Als „unzulässige finanzielle Bestechung der Wähler“ will diese nachträglich die Wahlversprechungen aller örtlichen Kandidaten werten, weil sie zum Beispiel höhere Renten in Aussicht gestellt hatten. Mit dieser Begründung ließen sich in Rußland alle Wahlen der letzten Jahre annullieren, nicht zuletzt die Präsidentenwahl.

Nicht nur die NowgoroderInnen gingen nach alledem auf die Barrikaden, sondern auch zahlreiche Moskauer Rechtsschützer- und Menschenrechtsvereinigungen, von der Helsinki-Gruppe bis zur Advokaten-Gilde. Der durch die Provinzposse im ganzen Lande verursachte Aufruhr lodert vor dem Hintergrund des Präsidenten- putsches gegen die Regierung vor vierzehn Tagen. Bis heute hielt Jelzin es nicht für nötig, seine Vorwürfe gegen das Kabinett Tschernomyrdin der Öffentlichkeit im Detail darzulegen. Den ihm viele Jahre hindurch treuen Ministerpräsidenten servierte er auf eine für beide beschämende Weise ab. Bei den vielen Diskussionen über die Gründe dieser Entscheidung äußerte bisher nicht ein einziger Kommentator den Verdacht, sie sei zum Wohle des Volkes getroffen worden. Niemand bezweifelt, daß der Jelzin-Clan nur um das Monopol kämpfte, die eigene Nachfolge zu bestimmen.

In Nischni wie in Moskau agiert die Mannschaft des Präsidenten, als bildeten WählerInnen in diesem Lande keinen politischen Faktor mehr, sondern nur noch die Komparserie für die Spiele der Mächtigen. Der Moskauer Star- anwalt Andrej Makarow kommentierte die Nischnier Ereignisse ausführlich: „Das ist der Versuch, jeden von uns einzuschüchtern — und zu allem Überfluß vorbeugend. Ganz gleich, was für ein hoher Chef du bist, ganz gleich, in welches Amt sie dich gewählt haben — vor dieser Macht bist du schutzlos. Und wirklich sollten diese Ereignisse unserem Vaterland Schrecken einflößen.“