: Die offenen Wunden des Genozids
Vier Jahre nach Beginn des Völkermordes in Ruanda sind die Kämpfe in einigen Regionen wieder aufgeflammt. Die Hutu-Milizen hoffen auf Verhandlungen ■ Von Pierre Richard
Berlin (taz) – Auch vier Jahre nach dem Völkermord in Ruanda sind die tiefen Wunden nicht verheilt, die der Genozid durch die Bevölkerung gerissen hat. Heute, zum Jahrestag, hat die Regierung zum offiziellen Gedenken aufgerufen. Aber das Land ist noch längst nicht befriedet. Noch immer wird das Land von den Angriffen der Hutu-Milizen erschüttert. In der Region im Nordwesten zwischen Gisenyi und Ruhengeri ist jede ausländische Präsenz unerwünscht. Dort töten die Milizen weiter, und jeder kann das nächste Opfer werden.
Augustin Ndindilioyimana, während der Ereignisse von 1994 Chef des Generalstabs der ruandischen Polizei, erklärt die fortdauernden Angriffe damit, „daß es immer noch zuwenig Anzeichen für einen realen Wandel gibt. Viele Menschen verschwinden, und ein Verantwortlicher der Armee hat an der Absicht keinen Zweifel gelassen, den Nordosten zu säubern.“ Auch sollte man nicht die mehr als 130.000 Personen vergessen, die derzeit wegen Beteiligung am Völkermord inhaftiert sind und auf ihren Prozeß warten.
Nichtsdestotrotz sind nach Angaben von Aldo Ajello, Sonderbeauftragter der Europäischen Union in der Region, Lösungen in Vorbereitung: Vizepräsident Paul Kagame „hat die Absicht, die strafrechtliche Verfolgung auf Personen der ersten Kategorie, die Hauptschuldigen am Genozid, zu begrenzen, und die Urteile der Personen der zweiten Kategorie in Zwangsarbeit umzuwandeln und sie sofort aus dem Gefängnis freizulassen. Diese Menschen könnten am Wiederaufbau des Landes mitarbeiten. Die Personen der dritten und vierten Kategorie würden sofort auf freien Fuß gesetzt und von ordentlichen Gerichten abgeurteilt. Sie werden dazu verpflichtet, dem Nachbarn zu helfen, dessen Haus sie zerstört haben oder demgegenüber sie Gewalt angewandt haben. Der Vorteil dieses Mechanismus ist, daß er diesen Menschen ermöglicht, wieder akzeptiert zu werden, da es ihre eigene Gerichtsbarkeit ist, die sie richtet.“
Dieser Vorschlag betrifft die Gefangenen, es bleiben jedoch die Milizen, die im Inneren des Landes operieren. Sie haben bereits angekündigt, das Land in zwei Teile spalten zu wollen. Ihr Ziel ist es, einen Teil des ruandischen Territoriums zu besetzen, eine provisorische Regierung einzusetzen und mit der Macht zu verhandeln. Für sie besteht das Problem darin, als politischer Verhandlungspartner anerkannt zu werden. Die Regierung lehnt bisher jeden Dialog mit den Völkermördern ab.
Dieses Verhalten könnte sich ändern. Denn viele, unter ihnen auch auch einige politische Beobachter aus dem Westen, sind davon überzeugt, daß es in Ruanda so lange keinen Frieden geben wird, bis nicht ein Dialog mit den Verantwortlichen des alten Regimes begonnen wird. Das aber ist für die ruandische Gesellschaft kaum möglich. Der Wunsch nach Verhandlungen „ist eine tragische Illusion“, warnt Ajello. Wer das propagiere, unterschätze „massiv die Auswirkungen des Völkermordes auf das Gewissen der Menschen, auf ihr Denken, auf alles. Es gibt Professoren, sehr gebildete Leute, die immer noch davon überzeugt sind, was bedeutet, daß sie die heutige Situation in Ruanda nicht kennen.“ Man darf wirklich nicht vergessen, daß „ein Genozid nicht irgendein Mord ist“, betont Ajello. Ein Genozid hinterläßt tiefe Spuren, noch Generationen später.
Die Ruander wissen, daß sie eines Tages verzeihen müssen. Heute aber erinnern sie sich wieder des Mordens.
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